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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Qualen. Und plötzlich wußte
ich, woher es kam. Von den Pfahlwurzeln, den armen, denkfähigen,
sterbenden Pfahlwurzeln, die in der Erde schrien.
    Als ich mich aufrappelte, bahnte sich eine Pfahlwurzel den Weg zur
Erdoberfläche und kam inmitten eines Hagels lockerer Erde
hervor. Das Geschöpf bog sich zu seinen lodernden
Extremitäten, wie um sie mit seinem Atem zu löschen. Erneut
brach der Boden auf, wieder flog lockere Erde herum – und eine
zweite Wurzel schob sich heraus. Dann noch eine. Und noch eine. Und
noch eine. Es war wie in einer Horrorkapsel, in der man die Toten aus
ihren Gräbern auferstehen sah, aber in erster Linie war es
anders als alles, was ich je in meinem Leben gesehen oder
geträumt oder halluziniert oder mir vorgestellt hatte.
    Von Rauch umhüllt und heftig hustend sank Kusk auf die
Knie.
    Ich drehte mich zur Wand um und begann mit der Sichel auf sie
einzuhacken. Rauch biß mir in die Augen. Ein weiterer Hieb. Ein
einzelner Riß erschien. Wieder ein Hieb. Dann ein Spinnennetz
von Sprüngen. Und noch ein Hieb. Schließlich eine von
Zähnen eingefaßte Öffnung.
    Ein verzweifelter Sprung, und der zum Untergang verurteilte Garten
lag hinter mir.
     
    Ich kam aus dem Inferno und geriet in einen Alptraum.
    Der Alptraum war der lauernde Lügner, der Traum, mit
dem alles angefangen hatte.
    Ich befand mich irgendwo im hinteren Teil des Irrgartens. Die
dornigen Zweige umklammerten mich. Ich prüfte einen Dornstrauch
mit der Spitze meines Zeigefingers. Eine Perle aus Blut kam hervor.
Das Pochen in meinem Ohr, meiner Wange, meiner Hand und meiner
Schulter überdeckte den Schmerz, den ich sonst gespürt
hätte.
    Dies war keine Halluzination. Kein Trugbild. Der Irrgarten war
alles, was das Wort real überhaupt nur bedeuten
konnte.
    Aber wozu diente er? Warum hatte Kusk so etwas auf dem Dach seiner
Burg angelegt?
    Und plötzlich wußte ich es. Endlich verstand ich den
Lotosfaktor. Voll und ganz. Ich hätte an der
Wendcraft-Universität ein Seminar darüber abhalten
können.
    Als ich es in Seligs Labor zum erstenmal mit dem lauernden
Lügner zu tun bekommen hatte, war der Traum
selbstverständlich ein Zephapfel gewesen. Und davor offenbar ein
Samenkorn. Und davor natürlich eine Sammlung neuraler
Phänomene. Und davor – das Hirngespinst eines Traumwebers?
Ein Höhenflug der Phantasie?
    Nein. Eine Realität!
    Eine Realität – ein Ereignis, das von Anfang bis Ende so
echt war wie eine Aufführung der Knochenjongleure, das in einer
Szenerie stattfand, die Zentimeter für Zentimeter so greifbar
war wie die Bühne im Bankettsaal. Kusk war überhaupt nicht
der Weber des lauernden Lügners gewesen! Nein – nur
ein naives Opfer konnte den Samen mit einer derart schieren,
tiefsitzenden und spontanen Angst beseelt haben. Vor meinem geistigen
Auge sah ich ganz genau, wie es gemacht worden war. Ich sah, wie der
Zentaur einem Schüler auflauerte, ihn unter Kusks
›modifizierte‹ Elektromelone setzte (die zweifelsohne so
›modifiziert‹ war, daß sie die Gehirnwellen
aufzeichnete, um sie später in eine Phrensamenschule zu
übertragen) und ihn an die Schwelle dieser Szenerie schleppte.
Ich sah, wie sich der Schüler daranmachte, die Wiese zu
überqueren. Ich sah, wie der lauernde Lügner auf ihn
zukam… ihm einen Dolch gab… ihm sagte, wonach er in dem
Ziegenbock suchen mußte, und warum. Ich sah, wie der
Schüler durch das Labyrinth hastete… den Ziegenbock
schlachtete… und hilflos mitansehen mußte, wie die
Schlüssel zu Insekten wurden. Auf diese Weise wurde ihm der
Traum eingegeben. Auf diese Weise wurde sein Seelenleben in einen
Phrensamen verwandelt und in Kusks Gewächshaus gepflanzt.
     
    Rauch verfolgte mich. Ich warf einen Blick auf meine Heckensichel
und erkannte, daß ich nicht gezwungen sein würde, den Weg
durch das Labyrinth auf die konventionelle Weise – durch Versuch
und Irrtum – zu finden. Die trockenen, toten Zweige fielen
bereitwillig unter meinen Hieben; wie Dornröschens Retter
schnitt ich mir einen Weg frei und gestaltete das Labyrinth damit auf
eine Weise um, daß auch eine hirngeschädigte Ratte den
richtigen Weg beim ersten Anlauf hätte finden können.
    Innerhalb von ein paar Minuten hatte ich mir einen Weg ins Zentrum
gebahnt. Die vier Statuen mit den Totenschädeln standen an den
gewohnten Stellen, aber sie waren bereits stark verfallen. Risse
sprenkelten ihr marmornes Fleisch. Witterungsflecken überzogen
ihre Gliedmaßen wie Muttermale.
    Von dem Ziegenbock, den ich

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