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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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getötet hatte, war nur noch ein
Skelett übrig. Nein, eigentlich kein Skelett. Ein Gerüst,
die Matrix eines Roboters, deren Schutzhaut vom Regen und vom Schnee
zerfressen worden war. Natürlich – nur ein
Roboter-Ziegenbock hätte seine Rolle derart zuverlässig
spielen können; nur ein Roboter-Ziegenbock hätte all diese
Schlüssel in seinen Hörnern tragen können. (Die
Schlüssel! Ebenfalls Roboter! Darauf programmiert, sich in
Käfer zu verwandeln!) Von der Sonne gebleicht, lag das
Gerüst auf braunem Gras, das früher einmal leuchtend
grün gewesen war. Der falsche Magen, die nachgemachten Lungen,
die künstlichen Eingeweide, das Ersatzherz, die Kunststoffnieren
– alles war schon längst zerfallen.
    Ich schwang meine Heckensichel und machte mich auf den Weg zum
Eingang des Irrgartens. Als ich das Tor passiert hatte, eilte ich
über die windgepeitschte Wiese.
    Ein nackter, nicht mehr funktionierender Android lag ungefähr
fünf Meter vom Brunnen entfernt. Mit seinen in allen
möglichen Winkeln abstehenden Gliedmaßen sah er wie eine
weggeworfene Marionette aus. Seine Miene war ausdruckslos, sein
Geschlecht nicht festgelegt, sein Alter undefinierbar, seine
Körperbeschaffenheit nicht genau zu erkennen. Ich wußte,
daß man den unfreiwilligen Vater der Hamadryade dazu gebracht
hatte, in dieser Gliederpuppe den Menschen zu sehen, den er am
meisten liebte, so daß jeder, der die Frucht aß,
daraufhin die entsprechende Person aus seinem eigenen Leben in sie
hineinprojizieren würde.
    Eine letzte Wahrheit erleuchtete mich, als ich auf den Androiden
zulief: Wohlverdienter Nachtisch war an mir und nur an mir
getestet worden. Creegmoor hatte diesen Apfel nicht gegessen; er hatte ihn geschaffen. Er war der Kanal für dessen
Webbuch gewesen, das Werkzeug für dessen Inszenierung.
Gesichtslos und geschlechtslos lag der für den Höhepunkt
benötigte abgetrennte Kopf wahrscheinlich in irgendeiner
düsteren Ecke des Bankettsaals herum; früher einmal etwas
Reales von entscheidender Bedeutung, war er jetzt wie der Android nur
ein Kunststoffrequisit aus einem abgesetzten Stück, das auf den
Müll geworfen worden war.
    Die Existenz des Androiden ließ sich leicht erklären,
nicht jedoch sein Zustand. Blut – oder ein Faksimile von Blut
– befleckte seine Haut von Kopf bis Fuß. Tiefe,
ausgezackte Wunden zogen sich über den Rumpf. Warum
hatte…
    Ein Laserstrahl zischte an meiner linken Schläfe vorbei. Ich
drehte mich um, und meine Augen bestätigten, was mein Herz
befürchtete: Kusk war der Vernichtung entronnen.
    In einer unbesonnenen Broc-Hornlaster-Geste schleuderte ich die
Heckensichel nach ihm. Sie verfehlte ihn, schlug in den verwelkten
Rasen und blieb aufrecht stecken.
    Mein Gegner kam zwei Schritte näher.
    Instinktiv hob ich die Hände vors Gesicht: Schutzwälle
aus Stroh, Hochwasserdeiche aus Sand.
    An diesem Tiefpunkt meines Schicksals schoß mir
plötzlich eine Frage durch den Kopf, die mir bereits im
weißen Zimmer in den Sinn gekommen war: Hatte Jonnie Kusk die
vergiftete Pastete serviert? Und ich verwandelte mich wieder in
Quinjin den Großen. So einfach gab ich mich nicht geschlagen.
Ich schöpfte neue Hoffnung. Ich beschloß, den Kampf
aufzunehmen. Nicht mit einer Waffe – ich hatte keine –,
sondern mit siebenundfünfzig Worten, die mir in den Ohren
geklungen hatten, seit der echte Flick Longslapper sie damals auf dem
unterirdischen Kontinent gesungen hatte.
    »Seele der Saat, höre mich!« rief ich durch
meine Hände. »Hirn des Baumes, komm hervor! Herz der
Frucht, erscheine! Hör auf, ein Schläfer in der Erde zu
sein! Hör auf, schlummernd im Fleisch dieser Farm zu
liegen!«
    Eine Pfahlwurzelbeschwörung gehörte offensichtlich nicht
zu den Dingen, die Kusk von mir zu hören erwartete. Seine
Kinnlade fiel herunter. Das Skalpell senkte sich ein paar gesegnete
Zentimeter.
    »Dich rufe ich herbei! Dich beschwöre ich! Dich
fordere ich auf, dich in sichtbarer Gestalt deinem Heiler zu
zeigen!«
    Kusk schrie.
    »Kind der Träume, du bist beschworen!«
    Sein Schrei zeugte jedoch nicht von Angriffslust. Er zeugte von
schrecklicher Verwirrung und noch schlimmeren Schmerzen. Er klang wie
die Schreie der bei lebendigem Leibe verbrannten Todesbäume. Und
dann ließ er das Skalpell auf einmal kraftlos zu Boden fallen
und torkelte wie ein Betrunkener im Kreis herum.
    Er hatte zu keimen begonnen.
    Ein Ast platzte aus seiner linken Schulter, zerriß seinen
Kittel und sein Gewand und wuchs der Sonne entgegen. Kusk

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