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Der Kontinent der Lügen

Der Kontinent der Lügen

Titel: Der Kontinent der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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griff ein
paarmal unbeholfen danach, bekam den jungen Trieb schließlich
zu fassen und brach ihn ab.
    Aus seiner rechten Pobacke drang eine Wurzel heraus und verlieh
ihm einen Eidechsenschwanz. Ich konnte sein Blut riechen. Nun
erschien ein zweiter Ast, der sich durch seine linke Brustseite
bohrte und sich mehrmals gabelte, bis er zu einem Bündel von
Ästen wurde. Ein reißendes Geräusch –
zerreißender Stoff, zerreißende Haut. Dann entsprang eine
zweite Wurzel aus dem Mutterboden seiner rechten Niere. Einen Moment
lang sah es so aus, als ob Kusk durch eine grausige
Kaiserschnittvariation einen Baum zur Welt bringen würde.
    Kusk hörte auf zu schreien. Anscheinend hatte ein Zweig das
Schmerzzentrum in seinem Gehirn zerstört.
    »Nun, Goth, mein Herr und Gebieter«, sagte ich leise,
als er auf mich zugetaumelt kam. »Ich glaube, Sie haben eine
Pastete gegessen.«
    »Das ist sonderbar«, sagte er, als zwei Äste aus
seinen Seiten stießen und Zweige bekamen.
    »Finde ich auch«, erwiderte ich.
    Es erstaunte mich, daß er noch am Leben war. Ich hatte das
Gefühl, daß ihm der Sämling Energie zuführte,
während er ihn gleichzeitig zugrunde richtete. Seine Äste
waren rot. Blutstropfen regneten wie Blütenblätter
herab.
    Er sprach erneut. »Sturmernte?«
    »Ja.«
    »Das merke ich.«
    Auf dem ganzen Weg bis zum Brunnen sproß er weiter. Ich
hörte ihn noch einmal ›sonderbar‹ sagen. Der Zweig,
der seinem Oberkiefer entwuchs, machte ihn näseln.
    Es gab kein Klatschen, als Kusk hineinfiel. Der Brunnen war
ausgetrocknet.
    Ich lief hin, schaute nach unten und sah ein bizarres Tableau, wie
man es sonst eigentlich nur unter dem Einfluß von vinum
sanguinis zu sehen bekommt. Der Baum des Geernteten Sturms lag
auf dem Felsbrocken und ernährte sich von Kusk. Und am unteren
Ende des Felsens, angekettet wie der Android im lauernden
Lügner, lag das Skelett eines Ziegenbocks. Das Skelett eines
Ziegenbocks? Das gleiche Skelett, das ich eben im Zentrum des
Irrgartens gesehen hatte? Vielleicht. Aber wer hatte es
hierhergebracht? Wann? Und warum? Gab es zwei Ziegenböcke
in dem Traum? Ich konnte mich nur an einen erinnern.
    Kusks Äste erzitterten. Seine Arme und Beine zuckten. Seine
intelligente Pfahlwurzel bekam so etwas wie einen epileptischen
Anfall. Eine makabre Ruhe spielte über sein Gesicht.
    »Hier ist die Schlußzeile, Kusk!« schrie ich zu
ihm hinunter. »Ihre Hamadryade ist tot! Ich habe sie
eigenhändig umgebracht! Und trotzdem ist Lilit noch nicht
gerächt!«
    Kusk sah aus, als ob er mir gern eine Antwort gegeben hätte,
aber das einzige, was aus seinem Mund kam, war ein stakkatoartiges
Gurgeln. Seine vielen Fortsätze versteiften sich, und er starb
mit offenen Augen.
    Innerhalb von ein paar Minuten war der Leichnam vollständig
aufgezehrt. Nur der Todesbaum blieb übrig. Von innen heraus
gekreuzigt, war Kusk mit seinem Traum eins geworden.

 
19

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Meine Ursünde

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    »Das wird nicht leicht sein«, meinte Urilla. »Du
mußt eine Zeitlang aufhören, ein Kritiker zu sein. Du
mußt deine Selbstkontrolle aufgeben und in die
verschütteten Teile deines Ichs eintauchen – das
Wurzelmaterial, wenn du so willst. Versuch mal als erstes, dich zu
entspannen.«
    Ich gehorchte so gut ich konnte, indem ich mich mit einer
katzenartigen Bewegung, die traurige Erinnerungen an Basil in mir
wachrief, auf den Bauch rollte und mich auf Kusks Freudscher Couch
ausstreckte.
    Wir waren im Begriff, ein Experiment zu machen. In den letzten
Stunden war ich zu der Überzeugung gelangt, daß meine
eingefrorenen Erinnerungen zu tauen begannen, weil ich mich
leibhaftig in der Szenerie des lauernden Lügners aufgehalten hatte und sogar in ihr herumgelaufen war.
Insbesondere der Ziegenbock im Brunnen – dieses mysteriöse
zweite Skelett – hatte in mir das Gefühl geweckt, daß
ich nicht weit davon entfernt war, das wahre Ende des
Lotoskapseltraums zu erkennen. Mit etwas Nachhilfe von jemandem, der
in psychologischen Dingen begabt war – jemand wie Urilla –,
würden mir die letzten Augenblicke wieder zu Bewußtsein
kommen, glaubte ich.
    Urilla schaltete den Vokalitapparat ein und ließ sich auf
Kusks Thron nieder. Sie schien dort zu Hause zu sein, als ob sie
diejenige gewesen wäre, die Goth abgesetzt hatte, und nicht
Jonnie und ich. Ihre Dreistigkeit störte mich nicht. Ich liebte
sie immer noch, und anscheinend liebte sie mich auch noch. Wenigstens
war das eins der ersten Dinge gewesen, die sie gesagt hatte, als ich
sie

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