Der Kraehenturm
dem die überlangen Ärmel seines weißen Hemds hervorragten, und fuhr sich durch die schulterlangen dunkelbraunen Haare. Mit einem flauen Gefühl im Magen beugte er sich herunter und hob seinen Hut auf.
Es führte kein Weg daran vorbei. Er musste in die Kanzlei, die den Ordo Occulto beherbergte. Nach seinem letzten Auftrag, bei dem er einen Serienmörder gestellt hatte, war nicht viel Zeit vergangen. Jetzt schien der geheime Orden der Rosenkreuzer, der sich mit der Erforschung übernatürlicher Phänomene beschäftigte, wieder etwas für ihn zu haben, was ihn nervös machte.
Mit beiden Händen betätigte er den Türklopfer, der die Form eines Basiliskenschädels hatte, und wartete. Doch nicht lang danach wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Anselm von Freybergs listige Augen spähten nach draußen und erkannten den jungen Gelehrten. Dann wurde dieser auch schon gepackt und hineingezogen. »Jetzo, mein Jungchen, sei leise.«
Die Perücke saß wie üblich schief auf dem Kopf des alten, gebeugten Mannes. Puderflecken zierten seine Schultern und zogen ein feines Muster über seine dunkle Weste.
Der Chronist der Kanzelley zur Inspektion unnatürlicher Begebenheiten zerrte Icherios mit gehetztem Blick in die Bibliothek, die gleichzeitig als Arbeitsraum für alchemistische Experimente und als Ausstellungsraum für Skelette, ausgestopfte Tiere und in Alkohol eingelegte Präparate diente. Die hohe Decke des ehemaligen Ballsaales wurde von einer Reihe großer, metallener Rohre gesäumt, aus denen an manchen Stellen pfeifend Dampf entwich. Sie spendeten der Bibliothek eine wohlige Wärme, erzeugten aber auch die ungewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit, unter der die Bücher und Pergamente sich in weiche, nachgiebige Lappen verwandelten. Auf wundersame Weise verloren sie dabei jedoch nicht ihre Lesbarkeit.
Die Gebeine eines riesigen, urzeitlichen Ungetüms, vor denen sich Icherios bei seinem ersten Besuch erschreckt hatte, hingen noch immer vor der Eingangstür. Inzwischen war er den Anblick des gewaltigen Skeletts gewöhnt und beachtete es ebenso wenig wie die hoch aufragenden Regale und Pergamentstapel auf den Tischen. Helles Tageslicht fiel durch die prunkvollen Fenster, deren Schönheit auch die von innen befestigten Gitter nicht verbergen konnten.
Freyberg schloss die Tür und sperrte sie sorgfältig zu. Icherios hatte große Mühe, währenddessen nicht auf dessen prankengleiche, weiß behaarte Hände zu starren. Erst nachdem der Chronist auch den letzten Riegel vorgeschoben hatte, entspannten sich seine Gesichtszüge.
»Ist etwas geschehen?« Trotz seiner Unruhe vermochte Icherios seine Neugierde nicht zu bezwingen.
»Nur ein paar Feenkobolde.« Freyberg schnaubte. »Hartnäckige Biester, wenn sie einmal entkommen sind. Ich werde mich beim Lieferanten beschweren.«
»Lieferanten?« Der junge Gelehrte glaubte, sich verhört zu haben.
»Was glaubst du denn, Jungchen? Dass ich selbst durch die Wälder des Riesengebirges schleiche, um diese Kreaturen zu fangen?«
»Nein«, stotterte Icherios und lief rot an. »Ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht.«
Der Chronist tippte ihm mit seinem runzeligen Zeigefinger gegen die Stirn. »Denken ist wichtig.« Dann ging er zu einem Tisch voller Pergamentrollen und Bücher. »Jetzo, ich habe ein Handbuch des Ordo Occulto aufgetrieben.« Er wühlte in einem Stapel Pergamente und holte ein kleines Büchlein hervor, das in dunkelgrünes Leder eingebunden war. Auf dem Buchrücken stand in hellroten Lettern Codex Nocturnus . Er drückte es Icherios in die Hand.
Neugierig betrachtete der junge Gelehrte die Hülle und schlug die erste Seite auf.
Den hochehrwürdigen Mitgliedern des Ordo Occulto überlassene Anweisungen zum Überleben von Begegnungen der übernatürlichen Art und ihrer Handhabung im Einklang mit den Grundsätzen der Rosenkreuzer.
Icherios widerstand der Versuchung weiterzulesen. »Warum habt Ihr mich hergerufen?«
»Der Ordo Occulto befiehlt dich nach Heidelberg, um ein Medizinstudium aufzunehmen.« Freybergs Augen funkelten.
Der junge Gelehrte konnte nicht verhindern, dass sich auf seinem Gesicht die Begeisterung widerspiegelte, die er in seinem Inneren verspürte. Ein Medizinstudium! Bis vor kurzem hatte er sich mit der Herstellung von Mottenkugeln seinen Lebensunterhalt verdient. Hin und wieder durfte er der Stadtwache bei der Aufklärung von Todesfällen zur Seite stehen und als billige Alternative zu einem ausgebildeten Arzt Leichen untersuchen. Ein
Weitere Kostenlose Bücher