Der Kraehenturm
für Icherios in Empfang genommen und geöffnet oder Botschaften verschwiegen hatte. Auch dieses Mal war der Gelehrte schneller und für die Fettleibigkeit des geldgierigen, poltrigen Schreiners dankbar.
Ein kleiner, magerer Junge mit dreckverschmiertem Gesicht und Sommersprossen überbrachte ihm mit einem frechen Grinsen die Nachricht, dass er sich zur Abendstunde beim Anwesen von Raban von Helmstatt einzufinden hätte. Icherios drückte dem Burschen eine Münze in die Hand, ignorierte die gebrüllten Fragen seines Vermieters und kehrte in sein Zimmer zurück.
Was wollte Raban von ihm? Es konnte kein Zufall sein, dass er ihn zu sich bestellte, kurz nachdem er von seiner bevorstehenden Reise nach Heidelberg erfahren hatte. Ging es um die Geschehnisse während seines Aufenthalts in Dornfelde, die Maleficium und ihn so sehr verändert hatten?
Hatte Icherios früher nichts als Bewunderung für seinen Mentor empfunden, sah er ihn inzwischen mit anderen Augen. Es waren nicht so sehr Rabans Geheimnisse – er hatte Icherios nie verraten, dass er ein Vampir war – oder dass er den jungen Gelehrten ohne Warnung in ein gefährliches Abenteuer geschickt hatte, sondern etwas hatte sich in seinem Verhalten seit Icherios’ Rückkehr verändert. Manches Mal ertappte Icherios ihn, wie er ihn mit einem seltsamen Glitzern in den Augen abschätzend musterte. Auf Fragen nach dem Ordo Occulto und Rabans Verstrickungen in dessen Aktivitäten erhielt er nur ausweichende Antworten. Sollte er ihn tatsächlich besuchen oder vorgeben, dass der Bote ihn nicht erreicht hatte? Aber Icherios’ Neugierde war stärker. Auch wenn er nichts Gutes erwartete, wollte er wissen, warum ihn der Vampir zu sich zitierte.
Nachdem er seine Kleider gepackt hatte, begann Icherios mit der mühseligen Aufgabe, die wichtigsten Reagenzien, Tinkturen, Gerätschaften und Bücher zusammenzusuchen. Seine beiden Koffer boten kaum genug Platz für das Nötigste. So verging die Zeit bis zum Aufbruch für Icherios’ Geschmack viel zu schnell. Widerstrebend zog er seinen langen Mantel an, setzte die Brille mit den gelb getönten Gläsern und seinen drei Fuß hohen Kastorhut auf und sperrte Maleficium in seinen Käfig.
Als der junge Gelehrte aus dem Haus trat, heulte ein eisiger Wind durch die Gassen, der totes Laub aufwirbelte und den Obdachlosen die letzte Hoffnung raubte, die nahende Nacht zu überleben.
Icherios lebte in einer schmalen Seitenstraße am Rand von Karlsruhe. Die Stadt war erst im Jahr 1715 nach sorgfältiger Planung gegründet worden und erinnerte in ihrer Gestalt an eine Sonne, deren Straßen wie Strahlen vom Karlsruher Schloss ausgingen. Ihr einstiger Glanz ließ sich jedoch nur noch erahnen. Der Winter hatte seine Klauen den ganzen Sommer über nicht vom Land genommen und tiefe Spuren hinterlassen. Die von der andauernden Kälte der vergangenen Jahre verursachte Hungersnot weitete sich durch die anhaltenden Wettereskapaden aus. Aber die Menschen starben nicht nur an Hunger, sondern erfroren teilweise einfach auf der Straße, weil sie keinen ausreichenden Schutz fanden. Vor den Toren Karlsruhes brannten in den Hungerlagern die Feuer, doch die Holzvorräte schwanden rasch, und die Heimatlosen zündeten alles an, dessen sie habhaft werden konnten.
Icherios schlug den Kragen seines Mantels hoch und vergrub seine Hände in den Taschen, während er sich auf den Weg zu Rabans Anwesen machte, das in der Nähe der Fasanerie lag. Je näher er dem Schloss kam, desto leerer wurden die Straßen. Die Bettler hatte es in die ärmeren Viertel getrieben, in denen sie nicht gleich von der Stadtwache verjagt wurden, wenn sie sich im Schutz von Hauseingängen zusammenkauerten. Rabans Haus lag in einer kaum besiedelten Gegend, umgeben von einem kleinen Wäldchen, das zusammen mit einem hohen, gusseisernen Zaun Schutz vor ungebetenen Besuchern versprach.
Gegen den Wind konnte Icherios’ schäbige Kleidung keinen Schutz bieten, sodass er zitternd und mit rot angelaufener Nase die nahezu zwei Fuß große, bronzene Glocke an dem massiven Eingangstor läutete. Kurz darauf erklangen die schlurfenden Schritte von Dred über dem Kiesweg, Rabans treu ergebenem, hinkendem Diener. Icherios war dessen schauderlichen Anblick gewohnt, sodass er nicht erschreckte, als die gekrümmte, bucklige Gestalt in der Abenddämmerung sichtbar wurde.
»Seid gegrüßt. Mein Herr erwartet Euch.«
Es mutete seltsam an, diese gewählten Worte aus dem verzerrten Mund zu hören, doch der junge
Weitere Kostenlose Bücher