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Der Kranich (German Edition)

Der Kranich (German Edition)

Titel: Der Kranich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Reizel
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Eva braucht nichts davon zu erfahren.“
    „Geht in Ordnung.“
    Ein weiteres Exemplar des
Chronos
wanderte in der Abflughalle des Stuttgarter Flughafens in den Mülleimer.
    Als der letzte Aufruf des Fluges United 8777 Destination Frankfurt/Main mit Anschluss an United 8899 Destination Los Angeles erfolgte, erhob sich Mario Pross von der unbequemen Sitzbank und begab sich zum Abfertigungsschalter. Misstrauisch beäugte er jeden Uniformierten, der sich ihm näherte, doch keiner zeigte Interesse an ihm. Der Flug war nicht einmal halb gebucht, und es dauerte nicht lange, bis er durch die Schleuse war. Zu seiner Verwunderung wurde er nirgends aufgehalten. Im Duty-Free-Shop erstand er eine kleine Flasche Klaren und nahm verstohlen einen kräftigen Schluck.
    Erst als sich zweieinhalb Stunden später die Boeing 747 in Frankfurt donnernd in die Luft erhob, atmete Mario Pross hörbar auf. Sein Sitznachbar, ein älterer Mann mit freundlichem Gesicht, blickte ihn mitleidig an.
    „Flugangst?“
    Pross lächelte gezwungen. „Flugangst, ja, ein bisschen“, entgegnete er und vertiefte sich sodann in eine Zeitschrift, um weiteren Smalltalk möglichst im Keim zu ersticken. Unauffällig tastete er nach dem kleinen Datenträger, der sich in der Innentasche seines Jacketts befand.
    Es war nicht der Orginal-USB-Stick, den hatte zu seinem Ärger Emmerich beiseitegeschafft, doch im Endeffekt spielte es keine große Rolle. Die Idioten bei Avaleet – ihr Chefprogrammierer eingeschlossen – würden es ohnehin nicht schaffen, das Potenzial des Datensatzes zu nutzen. Und das Genie, von dem er stammte, war leider nicht blöd genug gewesen, sich erwischen zu lassen. Ihm, Mario Pross, jedoch machte keiner etwas vor. Er wusste, dass das, was sich in seiner Jackentasche verbarg, seine Zukunft bedeutete. Dort, wo er hinwollte, gab es eine Menge Leute, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügten, ein paar unvollständige Programmzeilen in klingende Münze zu verwandeln. In Cupertino oder Mountain View, schlimmstenfalls in Redmond, Washington, würde man ihn mit offenen Armen empfangen! Und dort, jenseits des Ozeans, würde er zu weit weg sein, als dass man ihm juristisch noch irgendetwas anhaben konnte.
    Die Neue Welt stand ihm offen, und wenn er es schlau anfing, würde sie ihm zu Füßen liegen. Schon sah er sich mit Paris Hilton über den Walk of Fame flanieren. Während er von einer rehäugigen Stewardess sein Mittagessen in Empfang nahm und sich seinen Tagträumen hingab, wurde Deutschland unter ihm zu einem winzigen Punkt, zu einer Stecknadel auf der Landkarte.
    Nina zappelte aufgeregt, während ihre Mutter vergeblich versuchte, ihre schokoladebraunen Locken zu bändigen. Es war deutlich zu sehen, dass ihr Vater Rumäne war. Doch Kimi Radu hatte sich schon vor Jahren verabschiedet. Glücklicherweise hatte Nina kein Problem damit. Sie fragte selten nach ihrem Vater und schien mit ihrem Äußeren ganz zufrieden zu sein. Das machte die Dinge etwas einfacher.
    Umso intensiver hatte sie sich in den vergangenen Tagen nach ihrem Ersatzvater erkundigt, den sie ganz offensichtlich sehr vermisste. Judith Günther hatte alle Mühe gehabt, eine Geschichte zu konstruieren, die wahr genug war, um nicht das Gefühl zu haben, ihr Kind zu belügen, aber gleichzeitig unwahr genug, um Nina vor seelischen Schäden zu bewahren. Irgendwie war ihr das gelungen, und irgendwie war die Woche vergangen. Lillys Mutter war an den Nachmittagen nach dem Kindergarten als Babysitter eingesprungen, sodass sie so viel Zeit als möglich im Krankenhaus verbringen konnte. Nachdem Thomas den Ring an ihrer Hand wahrgenommen hatte, hatte er die versammelte Ärzteschaft mit seiner Rekonvaleszenz verblüfft.
    Seufzend gab Judith den Versuch auf, einen Zopf zu flechten, und steckte ihrer Tochter stattdessen einen hellblauen Reif ins Haar, dann küsste sie sie zärtlich auf die Stirn. Sie hoffte, sie würde ihre Entscheidung nicht irgendwann bereuen, und vor allem hoffte sie, dass Nina dann nicht die Leidtragende sein würde. Es gab so vieles, was sie nicht wusste. Eigentlich wusste sie überhaupt nichts, denn er hatte ihr nichts erzählt. Sie hatte auch nicht gefragt. Doch ihn so daliegen zu sehen, hilflos wie ein Kind, hatte sie nicht ertragen. Und auch zuvor schon, in den langen Stunden der Ungewissheit, als sie nicht wusste, ob sie jemals erfahren würde, was mit ihm geschehen war, hatte sich etwas verändert. Sie versuchte nicht, ihre Gefühle zu analysieren, das war

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