Der Kranich (German Edition)
morgens nach Hause zu kommen – das war am Wochenende so eine Art Ehrenkodex. Er pfiff etwas lauter.
Ralf war ein Kind dieses Stadtteils. Er hatte sein ganzes Leben hier verbracht, und es störte ihn nicht im Geringsten, dass sich auf absehbare Zeit daran auch wahrscheinlich nichts ändern würde. Es störte ihn nicht einmal, dass zwischen ihm und seiner Mutter nur ein Stockwerk lag. Seit er mit Beginn seiner Lehrzeit die gemeinsame Wohnung verlassen und sein Reich unter dem Dach bezogen hatte, störte ihn fast nichts mehr. Die Lehre als Kfz-Mechaniker war genau das, was er immer gewollt hatte, und nun, da sich sein drittes Lehrjahr dem Ende zuneigte, hatte sein Chef ihm bereits die unbefristete Übernahme signalisiert. Und Christos Pandakis, ein Deutscher mit griechischen Wurzeln, war bestimmt nicht die schlechteste Adresse. Er war umgänglich, und in seinem Metier machte ihm keiner etwas vor. Er hatte sich seinen Ruf hart erarbeitet und erntete nun die Früchte, denn in den letzten Jahren galt es im Stuttgarter Jetset zunehmend als schick, seinen Wagen zu Pandakis zu bringen. Ralf grinste. Nicht zuletzt diese Tatsache hatte ihn dazu bewogen, dem Übernahmeangebot schnell zuzustimmen. Die Jetsetterinnen waren im Allgemeinen sehr attraktiv – und oft genug allzu gelangweilt. Und er, Ralf, hatte noch nie etwas anbrennen lassen.
Er schob die Tür der italienischen Kneipe auf, die eben erst geöffnet hatte und noch vollkommen leer war. Trockene Heizungsluft und der übliche Geruch von Tomatenmark, Thymian und Parmesan schlugen ihm entgegen. Er hängte seine Jacke an die Garderobe, nahm seinen Stammplatz am Fenster ein und zwinkerte der blonden Kellnerin zu, die gähnend an der Theke stand.
„Na, Marcy, schläft hier noch alles, oder kriegt man schon eine Pizza-Party?“
Ralf liebte seine Gewohnheiten. „Pizza-Party“ bedeutete eine einfache, aber schmackhafte Pizza – Salami, Schinken oder Funghi – und ein kleines Bier. Und es war das billigste Essen auf der Karte.
Während er wartete, zog er sein iPhone, das er sich eigentlich gar nicht leisten konnte, das jedoch umso mehr sein ganzer Stolz war, aus der ausgebeulten Gesäßtasche seiner Jeans und ging das umfangreiche Adressbuch durch. Beim Eintrag
Luke Skywalker
hielt er an und tippte spielerisch mit der Fingerspitze auf den blankpolierten Touchscreen. Da er sein neuestes Spielzeug noch nicht allzu lange besaß, stellte sich dabei wie üblich ein wohliges Gänsehautgefühl ein. Es ließ sich nicht leugnen – diesem kühlen, glatten Metallkästchen wohnte beachtliches erotisches Potenzial inne! Auf der anderen Seite klingelte es einige Male, und als sich die Mailbox meldete, schaltete er sein Gadget wieder aus. Es hatte keine Eile.
Gedankenverloren blickte er aus dem Fenster. Milchige Schleier stiegen aus dem nahen Glemstal auf. Es war ein nebliges Fleckchen Erde, dieses Büsnau, und um diese Jahreszeit sah man manchmal die Hand vor Augen nicht.
Rhythmisch trommelte Thomas Lamprecht mit den Fingern seiner rechten Hand auf die Matratze. Sein Blick wanderte über die kahlen Wände, zu den weißen Gitterstäben vor den bruchsicheren Scheiben, die kalte Toilettenschüssel entlang, die in die Wand eingelassen war, und schließlich hinüber zu dem schmalen Schreibtisch, auf dem sich nun, säuberlich in einer Reisetasche zusammengepackt, die Handvoll Habseligkeiten befand, mit denen er die letzten drei Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Kalkweiß die Decke über ihm. Zu viele Stunden schon hatte er sie angestarrt. Hypnotisiert, wie ein kleines Tier, gefangen, chancenlos. Er versuchte sich daran zu erinnern, wie er überlebt hatte. Das erste Jahr ist das schlimmste, sagen sie. Es stimmt nicht. Genau genommen war es ein Versehen, dass er noch hier war, ein dummer Zufall, launisches Schicksal. Das aus einem in Streifen gerissenen Handtuch zusammengeknotete Seil hatte nicht gehalten. Noch bevor er auch nur die Chance gehabt hatte, das Bewusstsein zu verlieren, hatte er sich unsanft auf dem harten Zellenboden wiedergefunden. Ein weiterer trauriger Höhepunkt in der endlosen Abfolge des Versagens, das sein Leben war. Andere hatten seinerzeit mehr Glück gehabt. Wenn er sich auf die Pritsche stellte und den Kopf weit in die Ecke drückte, konnte er durch die Gitterstäbe einen flüchtigen Blick auf den ehemaligen RAF-Trakt erhaschen. Doch es interessierte ihn nicht wirklich, er hatte genug mit der Realität in seinem eigenen Block zu tun.
Nach der Episode mit dem
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