Der Kranich (German Edition)
ihr fremd. Sie waren einfach da. Und das „Ja“, das sie ihm schließlich gab, war unumgänglich geworden.
„Mama, gehen wir jetzt endlich Thomas abholen?“
„Gleich, Schatz. Du weißt, dass er noch nicht wieder ganz gesund ist, also bitte, nimm ein bisschen Rücksicht und sei nicht so wild, ja?“
„Okay.“
Judith Günther zögerte und sah ihre Tochter an. Sie hatte das Gespräch immer wieder hinausgeschoben, doch nun war die letzte Gelegenheit dazu. Sie musste es tun. „Hör mal, Schatz … du findest es doch gut, wenn Thomas bei uns ist, oder?“
„Klar.“
„Und fändest du es auch gut, wenn er für immer … ich meine …“
Nina zog die Stirn kraus. „Heiratest du ihn?“
„Na ja, vielleicht …“
„Soll ich dann Papa zu ihm sagen?“
„Du kannst weiter Thomas zu ihm sagen, wenn du willst. Es ändert sich nichts dadurch, weißt du. Wie … würdest du das finden?“
„Cool!“
Draußen zeigte der Februar sich mit erster Milde. Schnee und Matsch schienen bereits der Vergangenheit anzugehören, und es lag ein kaum wahrnehmbarer Vorfrühlingsduft in der Luft.
Sie erreichten das Marienhospital um die Mittagszeit. Nina war ausgelassen und zeigte sich über Thomas Lamprechts weiterhin zahlreiche Verbände und die Blutergüsse in seinem Gesicht keineswegs erschrocken. Die Krücken, mit deren Hilfe er sich mühsam fortbewegen konnte, schien sie sogar äußerst lustig zu finden. Judith Günther stellte lächelnd fest, was für ein großartiges, unkompliziertes Mädchen sie doch war. Wer weiß, dachte sie, vielleicht hat dein Vater dir ja doch etwas Gutes mit auf den Weg gegeben: starke rumänische Gene.
24
Wie meistens saß ich am Strand und beobachtete das rhythmische Kommen und Gehen der Wellen. Doch an diesem Tag hatte ich keine Lust, schwimmen zu gehen. Ich starrte abwechselnd aufs Wasser hinaus und auf die Papierbögen in meiner Hand. Ich hatte in der Lodge die Möglichkeit, meinen Computer an einen brauchbaren Tintenstrahldrucker anzuschließen, und ich hatte Ralfs letzte Nachricht ausgedruckt. Sowohl den
Chronos
-Artikel als auch seine kurzen Zeilen, die auf dem Papier nur als eine Reihe zusammenhangsloser Zahlen und Buchstaben erschienen. Den Inhalt kannte ich bereits auswendig. Stundenlang hatte ich darüber nachgedacht, ohne zu einem sinnvollen Ergebnis zu kommen. Ich hatte das Gefühl, mich in den Fallstricken meiner eigenen Geschichte verfangen zu haben wie ein Fisch im Netz. Egal in welche Richtung ich auch dachte, alles schien in eine Sackgasse zu führen. Ich hielt einen Haufen im Nichts endender Fäden in der Hand, alles zerbröselte, löste sich auf, wie die Geschichten von Boris F. und Karl Koch, wie das Papier in meinen schweißnassen Händen. Plötzlich verschwamm das grelle Sonnenlicht vor meinen Augen, und ich spürte, wie Tränen meine Wangen entlangglitten.
„Warum so schwermütig, Bro? Du hättest allen Grund zu jubeln!“
Ich blickte auf. Maya stand vor mir, schön und tröstlich wie immer, doch vielleicht mehr als jemals zuvor wurde mir in diesem Augenblick bewusst, dass nicht sie es war, die ich wollte. Ich hatte versucht mir einzureden, dass ich niemanden brauchte, war vor den Menschen geflohen, weil sie mir Angst machten und ich sie nicht verstand. Wie so vieles in meinem Leben, war auch dies eine Lüge.
„Es gibt immer einen Weg zurück, Skywalker.“
Traurig schüttelte ich den Kopf. „Nicht für mich. Jetzt nicht mehr.
Nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff
.“ Automatisch, ohne mir dessen bewusst zu sein, begann ich aus dem Blatt mit den codierten Zeilen einen Kranich zu falten.
Maya blickte mich lange schweigend an, dann entgegnete sie nachdenklich: „Okay. Wenn du unbedingt den Intellektuellen geben musst, dann weißt du aber sicher auch, dass Möbius mit Isolation und Rückzug scheitern musste.
Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden. Es gibt keine Möglichkeit, Denkbares geheim zu halten. Jeder Denkprozeß ist wiederholbar
. Du hast vollendet, wovon Forschergenerationen vor dir geträumt haben. Was bedeutet Verantwortung für dich, Bro? Mentalen Suizid zu begehen? Oder solltest du vielleicht einmal daran denken, deine Fähigkeiten in den Dienst der Menschheit zu stellen?“
Nun war ich es, der sie lange ansah. Ohne Angst diesmal, ohne auszuweichen. Endlich war ich bereit, mich der Wahrheit zu stellen. Hier, in der Abgeschiedenheit der Karibik, hatte ich einen lange
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