Der Kranich (German Edition)
der junge Mann, der ihm gegenübersaß, mit bemerkenswerter Konsequenz jeden seiner wohlüberlegten Interventionsversuche. Beunruhigt stellte Elvert fest, dass sich das Repertoire seiner Deeskalationsstrategien unaufhaltsam dem Ende zuneigte, während sein Gegenüber zusehends lauter wurde. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was der Auslöser dieser Gefühlsaufwallung gewesen war, konnte jedoch keine größeren Patzer seinerseits im bisherigen Gesprächsverlauf ausmachen. Die Geschichte schien einen Aufhänger zu haben, der sich außerhalb der Wände seines Sprechzimmers befand. Er versuchte es erneut.
„Herr Roth, es macht keinen Sinn, dass Sie mich in dieser Weise angehen. Ich bin auf Ihrer Seite!“
Was auch immer er hätte sagen oder tun können, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen – es wäre offensichtlich etwas anderes gewesen. Als die Gesichtsfarbe des Mannes in dem hellblauen Schalensessel einen unnatürlich grünlichen Ton annahm, wusste Elvert, dass er verloren hatte. Die Tirade gipfelte in unverständlichem Gebrüll, der junge Mann sprang auf, kam auf ihn zu, und einen Augenblick lang war der Therapeut überzeugt, dass er im nächsten Moment k.o. gehen würde, dennoch zeigte er keinerlei Reaktion. Dann schien es sich sein Klient plötzlich anders zu überlegen, stürmte zum Schreibtisch, der auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand, packte den Besucherstuhl – ein schweres Möbel aus Massivholz – und ließ ihn gegen die Zimmertür krachen. Dem hielt der abgenutzte Türgriff nicht stand, er barst aus dem Holz, die Tür flog auf, und Jürgen Roth stob aus der Praxis.
Ein paar Minuten lang blieb Gustav Elvert reglos in seinem Sessel sitzen und bemühte sich, das Geschehene zu analysieren. Er konnte nicht verhindern, dass sich ein Gefühl der Erleichterung einstellte angesichts der Tatsache, dass Roth an diesem Nachmittag sein letzter Klient gewesen war und niemand in dem angrenzenden Wartezimmer die peinliche Szene mitbekommen hatte. Sofort rügte er sich scharf für diesen Gedanken. Es ging hier nicht um ihn! Er hatte es nicht geschafft, einem Klienten, der sich offensichtlich in einer akuten Krisensituation befand, die erforderliche Hilfestellung zu geben. Er seufzte und sah auf die Uhr. Es würde kein Weg daran vorbeiführen, dass er sich vor Karin Kutscher für seinen Ausrutscher zu verantworten hatte.
Elvert stand auf, setzte sich an seinen Computer und machte eine kurze Aktennotiz. Dann besah er sich den Schaden an der Tür. Er reparierte den Griff notdürftig mit Hilfe eines zu kleinen Schraubenziehers, doch es war nicht mehr möglich, die Tür ganz zu schließen. Keine Chance, am Freitagnachmittag noch einen Handwerker herzubekommen, der hinterher auch zu bezahlen war! Gleich am Montag würde er sich darum kümmern. Eilig zog er seinen Mantel an. Es war höchste Zeit für seine wöchentliche Supervisionssitzung.
Der Feierabendverkehr hatte noch nicht eingesetzt, und so schaffte Elvert das kurze Stück von seiner in Vaihingen gelegenen Praxis hinunter zur Waldeck-Klinik in wenigen Minuten. Als er seinen Wagen auf dem Besucherparkplatz abgestellt hatte, stellte er erleichtert fest, dass ihm sogar noch ein paar Minuten Zeit für einen kurzen Spaziergang blieben.
Die Psychotherapeutische Klinik Stuttgart-Waldeck ist ein idyllisch gelegener Ort. Wie eine Kurklinik befindet sie sich mitten im Wald und dennoch wenige U-Bahn-Stationen von der Stuttgarter Innenstadt entfernt. Und es handelt sich um eine gute Adresse. Vielleicht nicht ganz so renommiert wie Bad Herrenalb einst unter Walther Lechler, aber doch annähernd. Die Creme der Therapieszene des Landes gibt sich hier die Klinke in die Hand, und die Psychiaterin Karin Kutscher gehörte zweifellos dazu. Zum wiederholten Male empfand Elvert fast so etwas wie Stolz über die Tatsache, dass er sie nun bereits das vierte Jahr seine Supervisorin nennen durfte. Er schätzte sie menschlich mindestens ebenso sehr wie fachlich, und die Einsichten, zu denen sie ihm verholfen hatte, waren für ihn tagtäglich von unschätzbarem Wert. Doch sie war auch eine harte und unbestechliche Kritikerin, und er ertappte sich dabei, dass er vor den Terminen mit ihr nervös wurde.
Gustav Elvert zog die gläserne Eingangstür auf, nickte dem Studenten an der Pforte zu und ging den Gang entlang. Nicht ohne vorher noch einen raschen Blick auf die Uhr geworfen zu haben, die den Eingangsbereich schmückte. Karin Kutscher mochte keine
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