Der Kranich (German Edition)
Besuch. Sie machten nicht viel Lärm – nicht einmal so viel, dass Nina aufwachte – doch sie drückten sich absolut klar und unmissverständlich aus.
Als Thomas Lamprecht mühsam die Treppen des sanierungsbedürftigen Altbaus in der Cannstatter Straße erklomm, war es tiefe Nacht. An die vorangegangenen Stunden würde er sich später nur noch in Bruchstücken erinnern. Da er längst keinen Schlüssel mehr besaß, musste er klingeln.
Judith war schnell an der Tür, öffnete sie jedoch nur einen Spalt breit. Sie hatte die Sicherheitskette vorgelegt.
„Was soll das, Baby? Ich bin’s!“ Das Sprechen hatte ihm schon eine Zeitlang in dieser Nacht Mühe bereitet, doch als sich die Tür öffnete, war er schlagartig nüchtern. Judiths Augen waren rot geweint, ihre Wangen bläulich verfärbt und geschwollen. Festgetrocknetes Blut klebte an ihren Lippen.
„Verdammt, was ist passiert?“ Rasch schloss er die Tür hinter sich und folgte ihr ins Wohnzimmer.
„Ich soll dir sagen, du hast eine Woche, sonst …“, sie brach ab und begann heftig zu schluchzen.
„Sonst was?“
„Sonst ist beim nächsten Mal Nina dran.“
Thomas nahm Judith, die aschfahl und zitternd auf dem Sofa kauerte, in die Arme.
„Barranquilla, dieser verdammte Hurensohn!“
„Was ist da los, Thomas? Wo ziehst du uns da rein?“
„Keine Angst, Baby, ich bringe das in Ordnung. Ich lasse nicht zu, dass euch etwas geschieht. Ich verspreche dir, ich bringe das in Ordnung!“
Nina lag friedlich in ihrem Bettchen und träumte. Die schokoladenbraunen Locken kräuselten sich um ihr pausbäckiges Gesicht. Ein Kind, das an der B14 aufwächst, hat einen sehr tiefen Schlaf.
Exakt vier Kilometer südwestlich, in der Rosenbergstraße, stürmte Ralf, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Steintreppe eines etwas weniger sanierungsbedürftigen Altbaus hinauf. Im fünften Stock angekommen, war er so außer Atem, dass er sich einen Moment lang am Geländer festhalten musste, bevor er die angelehnte Wohnungstür aufschob.
Der kurze Flur, von dem linker Hand das einzige Zimmer und rechter Hand die geräumige Wohnküche abgingen, wurde von zwei Halogenstrahlern erhellt. Der Laminatboden war nicht teuer, aber intakt, die Garderobe, genauso wie alles andere in Lukas Stegmanns Wohnung, schlicht und zweckdienlich. Das Badezimmer schloss, wie in Altbauten üblich, an die Küche an.
Ralf warf einen Blick auf den Esstisch, auf dem noch die Reste des Abendessens standen: Vollkornbrot, vegane Pastete und Avocadocreme. Er schauderte. Dann wandte er sich dem Wohn- und Schlafzimmer zu, das von einem riesigen Hochbett dominiert wurde. Die Wand darunter schmückten die Portraits der Helden seines Freundes: der junge Kurt Gödel als Student an der Uni Wien, Mitte der 1920er Jahre; Reinhold Messner nach der Besteigung des Lhotse im Herbst 1986; Bertolt Brecht als Fünfzigjähriger mit schwarzer Hornbrille; Shri Ramana Maharshi, milde lächelnd mit weißem Bart in Tiruvannamalai kurz vor seinem Tod.
Straßenlicht drang durch die bodentiefen Fenster herein und ließ die schwarzweißen Konterfeis auf mystische Weise lebendig wirken.
Mitten im Raum kauerte Lukas, umgeben von Büchern und vollgekritzelten Notizzetteln, vor seinem Notebook, dessen Displaybeleuchtung die einzige Lichtquelle war. Obwohl er vor weniger als drei Minuten die Tür geöffnet hatte, schien er so vollkommen in die Zeichenkombination auf dem Bildschirm vertieft, als befände er sich auf einer einsamen Insel – oder auf einem weit entfernten Planeten. In rascher Folge gab er Befehle ein, wartete auf die Programmausgabe, gab erneut ein, kritzelte etwas auf einen Zettel, wartete erneut.
Auch Ralf wartete. Geduldig setzte er sich Lukas gegenüber auf einen hellbraunen Cordsessel. Er wusste, dass es nicht allzu lange dauern würde, bis der Computer sein regelmäßiges Veto einlegte. Es dauerte exakt vier Minuten.
Der Bildschirm wurde schwarz, mit einem unüberhörbaren „fuck“ knüllte Lukas einen beträchtlichen Teil der Zettel zusammen und schleuderte sie in die Ecke.
Ralf grinste. „Buffer overflow. Wahrscheinlich ein Syntaxfehler. Bei Codes diesen Umfangs brauchst du dich darüber nicht zu wundern!“ Zwar hatte er sich während der vergangenen beiden Jahre in erster Linie mit Verbrennungsmotoren beschäftigt, das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass er sich von der Nerd-Attitüde seines besten Freundes einschüchtern ließ.
„Verdammt, ich bin so dicht dran, so dicht!“
„Das höre ich
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