Der Kranich (German Edition)
Verspätungen – abgesehen davon war es ja seine Zeit.
Als er den Raum betrat, blickte sie lächelnd von ihren Akten auf. Er mochte ihr offenes Gesicht mit den mitfühlenden blauen Augen. Obwohl sie ihm sicher ein paar Jahre voraus hatte, wirkte sie erstaunlich jung. Nur wenige graue Fäden zogen sich durch ihr langes, aschblondes Haar, das sie meist offen trug.
„Hallo, Gustav. Nimm Platz, ich bin sofort da. Kaffee?“
„Nein, danke.“
Er setzte sich in einen der beiden schon leicht verschlissenen Sessel, und der Gedanke tauchte auf, was diese in ihrem langen Leben wohl schon alles gehört haben mochten. Sofort wischte er ihn beiseite und versuchte, sich auf die vor ihm liegenden fünfzig Minuten zu konzentrieren.
Karin Kutscher klappte die Akte zu, setzte sich ihm gegenüber, eine große Tasse in der Hand, und sah ihn erwartungsvoll an.
Elvert begab sich sofort in medias res. Er wollte es hinter sich bringen und beschrieb die vorausgegangene Sitzung in allen unerfreulichen Einzelheiten. Als er geendet hatte, war es einen Moment still.
„Ich überlege zurzeit schon manchmal …“, begann er erneut, dann brach er ab.
„Was überlegst du?“
„Ich weiß nicht, ob ich das noch machen will. Ich meine schwerpunktmäßig. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann.“
„Was genau meinst du?“
„Ich meine die Arbeit mit –“. Er suchte nach den richtigen Worten.
„Gewalttätigen Drogenabhängigen?“
„Das klingt diskriminierend.“
Ein Lächeln huschte über Karins Gesicht. „Was soll das, Gustav? Wir stehen doch auf derselben Seite. Manchmal ist es gut, die Dinge einfach beim Namen zu nennen.“
Eine Pause entstand.
„Es wäre schade, wenn du damit aufhörst, denn diese Leute brauchen dich. Aber du musst dringend an deiner Abgrenzung arbeiten. Außerdem glaube ich, dass du manchmal zu früh zur Deutungsebene übergehst. In diesem Fall hast du es aus meiner Sicht eindeutig versäumt, ein stabiles Fundament auf der Beziehungsebene herzustellen. Es war in Ansätzen da, sonst müsste ich jetzt wahrscheinlich zuerst dein Gesicht verarzten – aber es war noch brüchig. Und hier sind wir bei einem altbekannten Problem: deiner Ungeduld.“
„Aber …“
„Ich weiß, was du sagen willst. Wie kann ich mit einem Patienten geduldig sein, der dabei ist, sich umzubringen? Vielleicht erlebt er die nächste Therapiesitzung ja nicht …“
„Klienten“, murmelte Elvert abwesend, „ich bin Psychologe.“
„Natürlich. Entschuldige. Aber auch wenn das jetzt vielleicht hart klingt: Das Risiko, dass deine Klienten sich umbringen, bevor du zu ihnen durchgedrungen bist, musst du eingehen. Die Chance, dass das nicht geschieht, wird allerdings erheblich größer, wenn du die Betreffenden nicht überforderst. Und dich selbst ebenso wenig. Vielleicht sollten wir uns mal anschauen, was für eine Rolle das Thema Überforderung in deiner Biografie spielt.“
Gustav Elvert richtete sich in seinem Sessel auf. Die Abreibung war glimpflicher ausgefallen, als er befürchtet hatte. Er war jedoch fest entschlossen, sich das Konzept für die Stunde nicht aus der Hand nehmen zu lassen.
„Gerne, Karin, aber nicht heute. Ich habe noch eine andere Sache, die mir unter den Nägeln brennt.“
„Lass mich raten: dein Asperger-Klient. Wie läuft es mit ihm?“
„Gut, so weit. Nein, das stimmt nicht ganz. Es läuft sogar sehr gut. Um nicht zu sagen, fast beunruhigend gut.“
„Was ist daran falsch?“
„Er verwirrt mich. Ich bin mir unsicher im Hinblick auf die Diagnose. Seine Symptomatik ist in hohem Maße atypisch.“
„Ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass du falsch liegst. Willst du die DSM IV-Kriterien noch mal durchgehen?“
„Die Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion sind bei ihm kaum wahrnehmbar. Ebenso wenig motorische Defizite, von dezenten Bewegungszwängen abgesehen. Andere Symptome wiederum sind deutlich ausgeprägt. Etwa der subjektive Stress, den er in Gegenwart von Menschen empfindet und die daraus resultierende Tendenz zur Isolation. Außerdem manifeste Inselbegabungen und Hypersensibilität auf akustische und visuelle Reize.“
„Hast du Ravens Matrizentest versucht?“
„Beim ersten Verdacht schon.“
„Und?“
„Der Junge ist ein Genie. Als er damit angefangen hat, Computer zu reparieren, war er sechs Jahre alt!“
„Hm. Ich glaube, du hattest gesagt, er sei jetzt Anfang zwanzig. – Wie sieht’s auf der körperlichen Ebene aus?“
„Vierundzwanzig. Ich denke, er
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