Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
fast in den Abgrund gestürzt!
Das Buschmesser rutschte ihm aus der Hand und schlitterte die Böschung hinab. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Zwei, drei Schüsse gellten durch die Nacht. Man hatte ihn entdeckt. Steine bröckelten den steilen Abhang hinunter. Dann, endlich, hatte er sich wieder gefangen. Einige hastige Atemzüge lang blickte er in die gut dreißig Meter tiefe Schlucht. Unten gurgelte ein Bach. Was jetzt? Die Böschung war zu steil und das Licht viel zu schwach, um einen Abstieg wagen zu können.
»Alla!«, rief da eine Stimme, die David bekannt vorkam.
Barrios! Natürlich! Deshalb mit einem Mal das disziplinierte Vorrücken der Verfolger. Ihr oberster Befehlshaber hatte persönlich das Kommando übernommen. Verzweifelt blickte sich David um und entdeckte einen langen Schatten: eine Brücke.
Ungeachtet der Schüsse hinter ihm begann David zu laufen. Es wurde einer der unangenehmsten Fünfzigmetersprints seines Lebens. Wenn ihm die Überquerung der Schlucht gelang, hatte er gute Chancen, die Verfolger abzuhängen. Und im anderen Fall…? Darüber wollte er sich vorerst lieber nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem musste er voll konzentriert sein, um nicht doch noch zu straucheln oder sich eine Kugel einzufangen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür wuchs mit jedem Schritt, den er seinem Ziel näher kam.
So weit die schlechten Lichtverhältnisse den Schluss zuließen, musste es sich bei der Brücke um eines jener Bauwerke handeln, mit dem Dschungelbewohner gemeinhin arglose Forscher und Abenteurer zu erschrecken pflegen. Eigentlich verdiente es seinen Namen gar nicht. Das Wort Brücke vermittelte die Vorstellung, ein ansonsten unpassierbares Hindernis gefahrlos überwinden zu können. David näherte sich dagegen einem luftigen Gebilde aus Stricken und Latten, das in keiner Weise vertrauenswürdig aussah. Er zog den Kopf ein, um einem herbeizischenden Projektil freie Bahn zu geben.
Endlich erreichte er den im Wind schwankenden Freiluftpfad. Obwohl die Verfolger in seinem Rücken mehr als geräuschvoll durch das Blattwerk brachen, zögerte er. Die Hängebrücke bestand hauptsächlich aus Tauen, möglicherweise Hanfseilen. Auch einige runde Querhölzer hatten bei ihrer Herstellung Verwendung gefunden, allerdings in so erschreckend geringer Zahl, dass sie bestenfalls als dekoratives Element angesehen werden konnten…
Eine Gewehrsalve störte Davids Betrachtungen. Gekonnt bremste er einige Geschosse ab und nahm den maroden Hängepfad in Angriff.
Die Brücke schwankte. Nein, sie wogte. Die Wahrscheinlichkeit, das gegenüberliegende Ende lebend zu erreichen, erschien David schon nach den ersten Schritten beklagenswert gering. Trotzdem wankte er weiter voran. Einmal versuchte er eine der seltenen Bohlen zu betreten, die quer zur Laufrichtung eingeflochten waren. Schnell zog er seinen Fuß wieder zurück. Vorsicht, Astbruch!, meldete die Sekundenprophetie.
Knoten für Knoten kämpfte sich David weiter. Seine Hände klammerten sich an ein »Seilgeländer«, dem ein merkwürdiges Eigenleben innewohnte: Es wand sich wie eine Anakonda. Hinter ihm brach nun die Palastwache aus dem Dickicht. Die Lichtfinger schwerer Stablampen wanderten über die verwobenen Schnüre. Im nächsten Moment wurde das Feuer eröffnet. Inzwischen hatte David ziemlich genau die Hälfte der Hängebrücke erreicht.
Schwankend drehte er sich zu den Jägern um. Die Abwehr der Kugeln begann ihn zu schwächen. Verteidigung allein konnte ihn auf Dauer nicht vor einem tödlichen Treffer bewahren. Er musste in die Offensive gehen. Jetzt war also doch eingetreten, was er unbedingt hatte vermeiden wollen. Er konzentrierte sich, um seine schrecklichste Waffe einzusetzen. Da gellte plötzlich ein Schrei.
»Parese!«
Das bedeutete auf Spanisch so viel wie »Halt!«. Selbst David hatte das Kommando verstanden. Obwohl sich die Stimme, der man hier Achtung zollte, auf geradezu akrobatische Weise überschlagen hatte, glaubte er sie doch wieder zu erkennen. Als nun ein Schemen zwischen langen Schilfwedeln hervortrat, bestätigte sich seine Vermutung.
»Warum reisen Sie ab, ohne uns Lebewohl zu sagen, Herr Schwertfeger?«, rief Justo Rufino Barrios über die Brücke hinweg, diesmal in Englisch. Im Lichte einiger Stablampen schulterte er sein Gewehr und setzte, ohne zu zögern, einen Fuß auf die Hanfkonstruktion.
»Ich kann das Gefühl nicht ertragen, jemandem zur Last zu fallen«, knurrte David zurück. Die
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