Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
Vermutlich nicht. Sonst wäre der Alte mit Sicherheit schneller und entschlossener gegen den Spion vorgegangen. Wahrscheinlich hielt er seinen Gast für einen Helfer David Camdens und wollte nur noch eine Weile mit ihm Katz und Maus spielen, bevor er wahr machte, was Barrios der Jüngere bereits angekündigt hatte: Er würde dafür sorgen, dass der Spitzel nie wieder aus dem Dschungel zurückkehrte.
Davids erster Gedanke hieß Flucht. Mit beinahe fünfundfünfzig Jahren gerät man allerdings nicht mehr so schnell in Panik. Er wog kühl seine Chancen ab. Wenn er jetzt, bei Tageslicht, in den Dschungel floh, würde Barrios’ Palastwache eine muntere Treibjagd auf ihn veranstalten. Anscheinend verfügte Belials Logenbruder über eine kleine Armee. David kannte seine Fähigkeiten, aber er war nicht verrückt genug, sich blind auf sie zu verlassen.
Ruhig trat er vom Panoramafenster zurück, zog sich bequeme Reisekleidung an und legte sich rücklings aufs Bett. Er musste jeden seiner weiteren Schritte genauestens überdenken. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hatte er noch etwas Zeit.
Während er im Kopf alle möglichen Szenarien durchspielte, blieben seine Sinne geschärft. Sollte Barrios glauben, ihn hier überraschen zu können, hatte er sich getäuscht. Aber der Alte war kein Anfänger. Im Zimmer blieb es ruhig. Anscheinend wollte er seinen Gegner zermürben und wartete ab. Wusste der Kreis der Dämmerung inzwischen, über welche Gaben sein größter Feind verfügte? Als die Sonne im grünen Meer des Dschungels versank, machte sich David für den Abmarsch bereit.
Mindestens eine Stunde lang hatte er über eine Alternative zur Flucht nachgedacht. Er konnte den Palast des Großen Jaguars den Ruinen von Tikal gleichmachen. Aber dabei würden vermutlich viele Menschen ihr Leben lassen und deshalb war dies keine Option für David. Wenn möglich, wollte er Barrios den Ring abnehmen und im Dschungel untertauchen. Gleich nach seiner Rückkehr in die Zivilisation hieß es dann für ihn, Mendez & Barrios die wirtschaftliche Grundlage zu entziehen. Anschließend sollten sich die beiden Köpfe des Unternehmens ohne große Schwierigkeiten auch gesellschaftlich ruinieren lassen. Darin besaß David ja bereits Übung.
In Äquatornähe bricht die Nacht selbst im Juni vergleichsweise früh herein. Über dem Palast des Großen Jaguars ging der Mond auf. David stand am Fenster und erinnerte sich an eine ähnliche Mondnacht im Haus eines anderen Belial-Jüngers. Ob auch Barrios alias Don Alfonso seinen Großmeister herbeizurufen gedachte, wie es einst Toyama getan hatte? Das wäre eine Gelegenheit…
Nein. David schüttelte den Kopf. Der Zeitpunkt war noch nicht gekommen, dem Schattenfürsten gegenüberzutreten. Es gab noch einige Geheimnisse, die gelüftet werden mussten. David vergewisserte sich, dass die Taschenlampe funktionierte und sein Taschenmesser am Gürtel hing. Was für eine jämmerliche Überlebensausrüstung! Tief durchatmend trat er einige Schritte vom Panzerglas zurück ins Zimmer hinein. Er konzentrierte sich. Ein paar Herzschläge lang herrschte völlige Stille, dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Die zentimeterdicke Scheibe knackte. Kurz darauf lief ein Riss quer durch das Glas. Dank der »sanften Verzögerung« wurde das Fenster nicht einfach – wie vor Jahren eine unschuldige Küchentür – durch die Nacht katapultiert, sondern ging langsam zu Bruch. Doch ehe David sein Werk mit einem Fußtritt vollenden konnte, spürte er plötzlich hinter sich eine Gefahr.
Er duckte sich, gerade rechtzeitig, um dem Buschmesser auszuweichen, das nach seinem Hals zielte. Der Stahl zischte wirkungslos durch die Luft.
Verblüfft, aber unfähig zu reagieren, sah der Gegner einen Fuß auf sich zufliegen. Im nächsten Augenblick wurde er auch schon hart am Brustbein getroffen und nach hinten geschleudert. Krachend landete er auf dem Glastisch des Salons, der klirrend unter ihm zerbarst. Während sich der Mann noch schreiend in den Scherben wälzte, preschte schon der nächste Angreifer mit einer schweren, breiten Klinge heran.
Im Zimmer brannte kein Licht, aber im Halbdunkel zählte David insgesamt vier »Sensenmänner«, einschließlich des im Glastisch verunglückten. Den auf ihn niederfahrenden Schwertarm verlangsamend, rammte David dem zweiten Meuchler von unten den Handballen in die Nase. Ein Knacken, ein Schrei, Blut und Tränen bahnten sich ihren Weg – und schon hatte die Waffe ihren Besitzer gewechselt.
David
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