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Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer

Titel: Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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David in die Knie. Die plötzliche Erschütterung brachte das morsche Gebilde aus Leinen, Knoten und Hölzern erneut zum Schwingen. Aber die vereisten Haltetaue waren zu spröde, um der Wellenbewegung zu folgen. Mit einem schauderhaften Knirschen brachen sie entzwei.
    Der Schuss aus Barrios’ Gewehr löste sich zu spät. Er durchlöcherte nur einige Blätter, weit über Davids Kopf. Einen Feuerbefehl erhielt die Wache vom Palast des Großen Jaguars jedoch nicht mehr. Die uniformierten Indios starrten stumm ihrem Chef nach, der schreiend in die Tiefe stürzte. Die nächtliche Vorstellung hatte ein jähes Ende gefunden.
    Wohl wissend, was ihn erwartete, hatte sich David für den rauschenden Abgang gewappnet. Während er aus dem Scheinwerferkegel geglitten war, hatte er auch mit seiner Linken das Halteseil gepackt und gleichzeitig die Kraft der Verzögerung auf seinen Brückenabschnitt konzentriert. Auf diese Weise landete er sicher, wenn auch nicht gerade sanft an der gegenüberliegenden Böschung.
    »Warum versuchst du immer wieder zu fliegen, wenn du es nicht kannst?«, zischte er ärgerlich. Vor Schmerz wurde ihm schwarz vor Augen. Mühsam hielt er sich bei Bewusstsein. Wie viel Zeit würde ihm noch bleiben, bis die Schrecksekunde oben vorüber war? Jeden Moment konnten sich die ersten Lichtfinger in die Klamm neigen.
    Der Gedanke war kaum gedacht, da traf ihn auch schon ein Strahl. Aufgeregte, fast animalisch klingende Laute tönten von oben herab. Dann blitzten Gewehrmündungen auf und Schüsse fielen. David machte sich auf sein letztes Stündlein gefasst. An diesem steilen Hang gab es nirgends Deckung. Man würde so lange auf ihn schießen, bis seine Kraft zum Abwehren der Geschosse erlahmt war.
    Verzweifelt kletterte er Richtung Talsohle. Als endlich die großen Findlinge am Grunde der Schlucht ins Blickfeld kamen, war David schon ungefähr ein Dutzend Tode gestorben, jedenfalls so gut wie. Bis jetzt hatte er das vorausgesehene Ende immer noch abwenden können, aber nun waren seine Kräfte praktisch erschöpft. Als habe die herrenlose Palastwache genau das geahnt, schwang sie sich zum großen Finale auf. Ein wahrer Geschosshagel ging auf David nieder. Er sank in die Knie, keuchte. Einige Projektile schlugen schon gefährlich nahe ein. Ein Steinsplitter bohrte sich in seinen Oberschenkel und er schrie…
    Unvermittelt hörte der Beschuss auf. Aber die Knallerei ging weiter, sogar stärker als zuvor, doch keine einzige Kugel schien sich mehr für David zu interessieren. Es war fast so wie damals im Ersten Weltkrieg, als er, einem Schlafwandler gleich, über das Schlachtfeld an der Somme gestapft war und kein Geschoss auch nur seine Haut ritzte. Es dauerte einige Augenblicke, bis David wieder zu Atem gekommen war und begriff, welchem Umstand er diese glückliche Fügung verdankte: Auf seiner Seite der Schlucht hatte sich eine andere Truppe formiert, eine zweite Feuerlinie gebildet und die Palastwache aus allen Rohren unter Beschuss genommen.
    Nach etwa einer Minute hatte er genug Kraft gesammelt, um sich aus dem Staub machen zu können. Er kletterte die letzten Meter zum Bachbett hinab, das nur wenig Wasser führte. Schon wollte er sich zur Flucht wenden, als ihm ein Gedanke durch den Kopf fuhr.
    Der Ring! Von Barrios war sicher nicht viel übrig geblieben, aber dem Siegelring würde der Sturz nicht geschadet haben. Alle Vorsicht außer Acht lassend, stapfte er zur anderen Bachseite hinüber. Bald hatte er den regungslosen und grotesk verkrümmten Leib des einstigen Präsidenten gefunden, Barrios war definitiv tot, David machte sich am Ringfinger der Leiche zu schaffen. Über ihm tobte das Feuergefecht unvermindert heftig. Irgendwie kam er sich schäbig vor.
    Warum geht denn das verdammte Ding nicht ab? Die Ant wort war einfach, Barrios hatte es sich in den letzten zweiundsiebzig Jahren gut gehen lassen, vielleicht nicht so gut wie An Chung-gun, aber er musste trotzdem um einiges zugenommen haben. Jedenfalls war der Siegelring im Verlaufe vieler Jahrzehnte mit dem Finger seines Trägers regelrecht verwachsen. David stöhnte. Wozu würde ihn dieser Geheimbund wohl noch zwingen! Er konzentrierte sich kurz. Unter Kälteeinfluss schrumpft alles zusammen, hatte er schon in der Schule gelernt. Als er den Finger für eisig genug hielt, zog er noch einmal kräftig am Siegelring.
    Knack!
    »Oh! Tut mir Leid«, sagte David in ehrlichem Bedauern. Er legte den abgebrochenen Finger des Altpräsidenten auf dessen Brust und

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