Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
lenken?«
»Ein Fatalist bin ich schon gar nicht.«
»Das habe ich damit auch nicht gemeint, David.«
»Du weißt, was meine Bestimmung ist, Lorenzo. Das Geschick der Menschheit liegt in Gottes Händen. Mir steht es genauso wenig zu, in seine Angelegenheiten einzugreifen, wie irgendeinem anderen Menschen oder selbst einem Engel. Ich muss allein eines tun: den Kreis der Dämmerung zerschlagen. Nur wenn ich seine Geheimnisse lüfte, kann mir das gelingen.«
Der ehemalige Mönch lächelte. »Ich bin froh, dass wir diesen Punkt geklärt haben, David.«
Der runzelte die Stirn. Mit einem Mal kam ihm diese ganze Unterhaltung absurd vor. Zum Philosophieren gab es wahrlich ansprechendere Orte. »Wir haben uns so viele Jahre nicht austauschen können. Was ist eigentlich aus deinen Nachforschungen in den vatikanischen Archiven geworden?«
Lorenzo deutete auf das Glas Wasser am Boden. »Man könnte sagen, sie waren fruchtbar. So wie dieses Weihwasser dort.«
»Das ist was!«
Der ehemalige Benediktiner lachte leise. »Es war nichts anderes da. Ich habe nur ein leeres Glas mitgebracht, weil ich wusste, dass ich es hier füllen kann. Und außerdem noch die Kerze da.«
»Und was hat das mit der Erforschung der Archive zu tun?«
»Vermutlich weißt du, welchem Zweck der Raum hier einmal diente.«
»Ja, diese Anlage war früher ein Mithrastempel.«
Lorenzo nickte. »Komm einmal mit.« Er bückte sich, hob den Kerzenhalter auf und dozierte im Vorangehen wie ein Fremdenführer. »Man glaubt, römische Legionäre hätten den Mithraskult aus Kleinasien mitgebracht, etwa zur Zeit der Zerstörung Pompejis durch den Ausbruch des Vesuv. In der Avesta, der heiligen Schrift der altpersischen Parsen, taucht Mithras als oberster oder guter Geist und Weltherrscher auf. Diese Religion gibt es heute noch; sie ist dir vielleicht besser als Zoroastrismus bekannt.«
»Ich habe gerade einiges darüber gelesen«, brummte David.
Lorenzo fuhr unbeirrt fort: »Fein, dann wirst du vielleicht auch wissen, dass dieses Mithräum hier eingerichtet wurde, nachdem der Mithraskult sich im Römischen Reich längst etabliert hatte. Die Wohngebäude, deren Reste du hier siehst, bestanden allerdings bereits, als Nero im Jahre 64 nach Christus die Stadt einäscherte. Als Kaiser Domitian ungefähr zwanzig Jahre später die Christen verfolgen ließ, hatte Titus Flavius Clemens hier seine Villa, gleich neben einem Mietshaus auf der anderen Straßenseite. Clemens war römischer Konsul und Cousin des Imperators. Seine Frau Flavia Domitilla hatte sich dem Christentum zugewandt und nutzte das Haus als geheime Versammlungsstätte. Zu der kleinen Gruppe Gläubiger gehörte auch Clemens’ freigelassener jüdischer Sklave, der – wohl nicht ganz zufällig – Clement hieß. Angeblich hat dieser Jude auch mit Paulus und Petrus zusammengearbeitet. Er wurde, der Legende nach, der dritte Papst. Ich persönlich halte es eher mit jenen Kritikern, die auf die vielen Unstimmigkeiten in der Petruslegende hinweisen, und teile mit ihnen die Überzeugung, dass er Rom nie zu Gesicht bekommen hat – aber das nur am Rande.«
Sie hatten inzwischen das Ende eines Korridors erreicht und standen in einem düsteren Raum, den Lorenzo lapidar das »Klassenzimmer« nannte. Er hob seine Kerze an die Wand, David konnte kleine Nischen erkennen. Es gebe insgesamt sieben Stück davon, erklärte Lorenzo, entsprechend der siebenstufigen Initiation des Mithraskultes. Dann schob er das Licht in die letzte Nische.
»Kennst du das hier?«
David trat näher an seinen Freund heran, um besser in die Wandvertiefung sehen zu können. »Das gibt’s doch nicht!«
»Ich dachte mir schon, dass du so etwas sagen würdest. Es ist das gleiche Symbol, das den Siegelring an deinem Hals ziert, stimmt’s?«
David nickte langsam, ohne den Blick von der Rosette in der Mauervertiefung zu nehmen. »Wie hast du das nur entdeckt?«
»Durch einen Hinweis in der Kopie einer alten Handschrift von Averroes, die ich deinen Anweisungen folgend in den vatikanischen Archiven gefunden habe. Der muslimische Wissenschaftler muss – ganz wie von dir und unserem Heidelberger Freund Fresenius vermutet – etliche Schriften aus der Alexandrinischen Bibliothek gekannt haben. Jedenfalls berichtet er tatsächlich über die Bruderschaft vom Ende des Sonnenkreises, die… «
»… auch Jason in seinem Vermächtnis erwähnt hat«, führte David den Satz zu Ende. Sein Mund fühlte sich mit einem Mal ganz trocken an. »Und was hat
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