Der Kreis der Dämmerung 03 - Der weiße Wanderer
machen? Konnte ihn hier unten überhaupt jemand hören? Und zuletzt: Warum hatte dieser grappaabhängige Kladdenmeister ihm keine Taschenlampe anbefohlen?
Noch ganz in die Erforschung dieser Rätsel vertieft, wurde David plötzlich von einem Geräusch aufgeschreckt. Da! Eben hatte er es wieder gehört, ein Schaben, fast als schlurfte jemand in der Ferne über den Steinboden.
David wappnete sich gegen einen Angriff: Ein schwacher Lichtschimmer fiel durch den Eingang des Mithräums. Auch das Schlurfen war deutlicher geworden. Offenbar rührte es wirklich von Fußsohlen her. Aber wer immer da kam, er schien es nicht eilig zu haben.
Kein Wunder, David. Du kannst ihm ja nicht entkommen.
Ein unruhiger Lichtkreis kroch jetzt über den Boden auf das Mithräum zu. David hielt den Atem an, spannte alle Muskeln und erblickte einen Mann, der langsam vor ihm in den Eingang trat und mehr mit den Gegenständen in seinen Händen als mit seiner Umgebung beschäftigt schien. Der von dem »Heiligen« mitgebrachte Kerzenhalter verbreitete genügend Helligkeit, um sein Gesicht ausreichend zu beleuchten. David verlor die Fassung…
»Ich hatte eigentlich mit etwas mehr Begeisterung gerechnet!«, murrte der »Heilige«.
Nur mit Mühe konnte David sprechen, »Lorenzo?«
»Sag nichts: Ich bin älter geworden, stimmt’s?«
Endlich wich die Lähmung aus seinen Gliedern. Gerade noch konnte Lorenzo Di Marco den Leuchter und das Wasserglas auf den Boden stellen, da fiel ihm David auch schon überglücklich in die Arme.
»Ich bin so froh, dich wieder zu sehen!« Tränen rannen ihm über die Wangen. Er weinte haltlos wie ein Kind.
»Na, na«, sagte Lorenzo bewegt, »beruhige dich doch. Hätte ich gewusst, was ich anrichten würde…«
»Was dann?«, unterbrach David seinen Freund und schob ihn auf Armlänge von sich. Ja, Lorenzo war älter geworden – er musste Mitte fünfzig sein. Aber was spielte das für eine Rolle? Dieser Mann war für David mehr als nur ein Helfer. Auf keinen seiner Gefährten traf das Wort Bruder so zu wie auf Lorenzo Di Marco. Eine Seelenverwandtschaft verband sie seit ihrer ersten kurzen Begegnung im Vatikan. »Hättest du den Tag unseres Wiedersehens dann noch weiter hinausgeschoben?«, fragte David und lachte, wie er es lange nicht mehr getan hatte.
»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Lorenzo lächelnd. »Nur einen etwas anderen Rahmen hätte ich vielleicht gewählt. Aber ich war mir ja auch nicht ganz sicher, ob der Mann, den mir Ugo beschrieben hatte, wirklich derselbe war, auf den ich so lange gewartet habe.«
Mit den Hemdsärmeln trocknete sich David das Gesicht ab. »Du hast ziemlich merkwürdige Freunde.«
»Das kann man wohl sagen.« Lorenzo blickte tief in Davids Augen.
»Ich meine deinen genusssüchtigen Liegenschaftsbeamten.«
»Hab dich schon verstanden, David. Ugo ist nicht mehr als ein Bekannter für mich. Früher hatten wir öfters miteinander zu tun. Ihm verdanke ich auch meinen jetzigen Unterschlupf, ein ausgedientes Pfarrhaus samt Kirche. Beides wird zwar irgendwann einmal über mir zusammenstürzen, aber im Moment bin ich ganz glücklich damit.«
»Klingt ein wenig abenteuerlich. Warum sprichst du von dem Haus wie von einem Versteck? Und weshalb trägst du diesen abstrusen Beinamen?«
»Der Heilige, meinst du?« Lorenzo schüttelte lächelnd den Kopf. »Den habe ich mir nicht selbst gegeben. Mit den katholischen Heiligen habe ich schon längst nichts mehr zu tun.«
»Heißt das, du hast dein Gelübde gebrochen?«
»Ich bin kein Benediktiner mehr, wenn es das ist, was du meinst. Aber Gott gegenüber habe ich mein Treueversprechen gehalten. Ich diene ihm heute auf eine mehr… sagen wir, urchristliche Weise.«
»Als wir uns zum letzten Mal gesehen haben, sprühtest du vor Unternehmungsgeist. Ich weiß noch genau, wie du die Kirche reformieren wolltest.«
»Das ist längst vorbei. Ich habe der ›Mutter Kirche‹ wegen – wie sagt man so schön? – unüberbrückbarer Differenzen den Rücken gekehrt. Das lange Schweigen Pius’ XII. zum Holocaust hat meinen Entschluss besiegelt. Als er doch noch die Stimme erhob, kam es mir nur noch wie ein diplomatisches Manöver vor.«
»Darin war Pacelli ja schon immer Meister.«
Lorenzo nickte ernst. »Mir war der Blick hinter die Kulissen des Vatikans vergönnt. Das hat mich geheilt. Für Pius XII. war ich nach dem Tod seines Vorgängers und meines Mentors doch sowieso nur wie ein ungeliebtes Möbelstück, das man von seiner Erbtante
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