Der Kreuzfahrer
Getreide reifen lassen, und nun ist alles bereits geerntet, und die Speicher sind bis zum Dach gefüllt mit Säcken voller Weizen, Hafer und Gerste. Tag für Tag geben die Kühe süße Milch, die Schweine mästen sich im Wald mit Bucheckern, und Marie, meine Schwiegertochter, die diesen Haushalt für mich führt, ist eine zufriedene Frau. Ich danke Gott für seine Gnade.
Ihr Cousin Osric, ein beleibter Witwer mittleren Alters, kam im Frühjahr als Gutsverwalter hierher, und er brachte seine beiden kräftigen Söhne Edmund und Alfred mit, die nun ebenfalls als Feldarbeiter angestellt sind. Ich kann nicht behaupten, dass Osric mir sympathisch sei: Er mag der ehrlichste, fleißigste Mensch auf Erden sein, aber er ist so fade wie ungesalzenes Dinkelbrot. Und allzu dienstbeflissen streng, was den Umgang mit meinen Leibeigenen betrifft. Doch seit seiner Ankunft hier hat sich mein Leben wesentlich zum Besseren verändert. Was einst ein tristes, ungepflegtes Anwesen mit von Unkraut überwucherten Feldern und baufälligen Gebäuden war, hat sich in einen betriebsamen und ertragreichen Gutshof verwandelt. Er hat die Pachtzahlungen eingetrieben, die längst überfällig waren. Zur Erntezeit stand er vor dem Morgengrauen auf und scheuchte die Leibeigenen, die mir ihren Frondienst schuldeten, hinaus auf die Felder. Für die Freien des Dorfes, die nicht verpflichtet, aber willens sind, auf meinem Grund zu arbeiten, führte er einen bescheidenen Tagelohn ein. Er hat dem Gut Ordnung, Wohlstand und Zufriedenheit gebracht – und dennoch mag ich ihn nicht.
Vielleicht kann ich mich nicht für ihn erwärmen, weil er ein so hässlicher Mann ist – in der Mitte rund wie ein Ball, mit kurzen Armen und Stummelfingern, und das verkniffene Gesicht unter dem beinahe kahlen Kopf erinnert an einen Maulwurf. Seine Nase ist zu groß, der Mund zu klein, und in seinen winzigen Augen steht immerzu ein besorgter Ausdruck. Ich sehe den Grund für meine Abneigung allerdings lieber darin, dass er keine Musik in der Seele trägt, keine wilde, ungezähmte Freude im Herzen.
Trotzdem war es gut, dass Osric gekommen ist. Im vergangenen Jahr war das Gutshaus in Melancholie versunken. Marie und ich hatten Mühe, einen Grund zum Weiterleben zu finden, nachdem mein Sohn, ihr Ehemann Rob, an einer Krankheit verstorben war. Gottlob ist uns eine lebendige Erinnerung an ihn geblieben, nämlich mein nach mir benannter Enkel Alan. Zu Weihnachten wird er acht Jahre alt – ein gesunder, stürmischer kleiner Junge.
Alan ist in Osrics jüngeren Sohn Alfred vernarrt. Dieser junge Mann ist sein Held, eine Art Halbgott, und er ahmt alles nach, was der große Landarbeiter tut. Alfred kam beispielsweise auf die Idee, sich ein Leinentuch um die Stirn zu wickeln, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen rinnt, während er das reife Getreide mit der Sense mäht. Also musste der kleine Alan sich selbstverständlich ein ebensolches Stirnband fertigen. Nachdem Alfred einmal erwähnt hatte, dass er Buttermilch möge, begann Alan, ihm einen Krug davon hinterherzutragen, für den Fall, dass Alfred durstig werden sollte. Harmlose Albernheiten eines kleinen Jungen, mag man denken. Möglich, doch ich habe beschlossen, Alan bald fortzuschicken, damit er auf einem anderen Anwesen fern von hier die seinem Stand entsprechende Ausbildung erfährt. Dort wird er lernen, wie ein Ritter zu reiten und zu kämpfen, er wird tanzen und singen lernen und Latein und Französisch: Ich will nicht, dass er zu einem Landarbeiter heranwächst. Diese Bewunderung für den jungen Alfred mag harmlos sein, doch ich weiß, wie viel Wut und Kummer diese blinde Verehrung eines älteren Mannes verursachen kann, wenn der Junge schließlich erkennt, dass sein Idol nicht der Held ist, der er zu sein scheint. Ebendiese Erfahrung musste ich selbst mit Robin of Locksley machen.
Mein Herr erschien mir anfangs als heldenhafte Gestalt, mutig, stark und ehrenhaft – genau so, wie Alfred dem jungen Alan erscheinen mag. Doch ich entsinne mich nur zu gut der plötzlichen Übelkeit, als ich erfuhr, dass Robin in Wirklichkeit ebenso gierig, grausam und selbstsüchtig war wie jeder andere Sterbliche.
Ich weiß, dass ich Robin gegenüber ungerecht bin, indem ich ihn selbstsüchtig, grausam und gierig schelte: Ich selbst hatte mir ein falsches Bild von ihm gemacht, er hat mich keineswegs absichtlich getäuscht. Dennoch empfinde ich Groll und Scham, wenn ich mich an die guten und edlen Männer erinnere, die ihr Leben
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