Der Krieg am Ende der Welt
brauchten zwölf Tage von hier nach Uauá, das direkt vor Canudos liegt, ein voller Erfolg«, sagt Leutnant Pires Ferreira. »Meine Männer fielen fast um vor Müdigkeit, also beschloß ich, dort zu kampieren. Und ein paar Stunden später weckten uns die Pfeifen.«
Sechzehn Verwundete liegen in zwei Reihen Hängematten einander gegenüber: grobe Verbände, blutverschmierte Köpfe, Arme und Beine, nackte und halbnackte Körper, zerfetzteHosen und Uniformjacken. Ein eben angekommener Arzt im weißen Kittel versieht die Verwundeten, gefolgt von einem Krankenpfleger, der einen Verbandskasten trägt. Das gesunde, städtische Aussehen des Arztes sticht auffallend ab von den verquälten Gesichtern, dem schweißverklebten Haar der Soldaten. Hinten in der Baracke spricht eine angsterfüllte Stimme von Beichte.
»Haben Sie keine Wachen aufgestellt? Haben Sie nicht daran gedacht, daß Sie überfallen werden könnten, Leutnant?«
»Wir hatten vier Wachen, Herr Kommissar«, erwidert Pires Ferreira und zeigt vier energische Finger. »Sie haben uns nicht überrascht. Als wir die Pfeifen hörten, stand die ganze Kompanie auf und machte sich kampffertig.« Leise fügt er hinzu: »Aber wir sahen keinen Feind kommen, sondern eine Prozession.«
Von einer Ecke des Feldlazaretts aus sieht man das Ufer des Flusses, die mit Sandias beladenen Boote, die auf ihm fahren, das kleine Feldlager, in dem sich der Rest der Truppe aufhält: Soldaten, unter Bäumen im Schatten liegend, zu je vier aufgestellte Gewehre, Lagerzelte. Ein Schwarm Papageien fliegt kreischend vorüber.
»Eine kirchliche Prozession, Leutnant?« fragt überraschend eine ungebetene, näselnde Stimme. Mit einem flüchtigen Blick auf den Sprecher nickt der Offizier:
»Sie kamen aus Richtung Canudos«, erklärt er, immer dem Kommissar zugewandt. »Es waren fünfhundert, sechshundert, vielleicht tausend.«
Der Kommissar hebt die Hände, sein Adjutant schüttelt nicht minder ungläubig den Kopf. Es sind, wie auf den ersten Blick zu sehen ist, Stadtleute. Sie sind am Morgen mit dem Zug aus Salvador in Juazeiro angekommen, noch halb betäubt und steif von dem Gerüttel, sie fühlen sich unbehaglich in ihren langen Jacken mit den weiten Ärmeln, in den bauschigen Hosen und den schmutzig gewordenen Stiefeln, sie sind erhitzt und sicherlich wenig erbaut darüber, zwischen verwundetem Fleisch im Gestank zu stehen und den Hergang einer Niederlage ermitteln zu müssen. Während sie mit Leutnant Pires Ferreira sprechen, gehen sie von Hängematte zu Hängematte, und der Kommissar, ein mürrischer Mann, bückt sich hin und wieder, um einenVerwundeten zu tätscheln. Er selber hört sich nur an, was der Leutnant sagt, aber sein Adjutant macht sich Notizen, wie übrigens auch der andere Neuankömmling, der mit der näselnden, heiseren Stimme, der häufig niest.
»Fünfhundert, tausend?« sagt der Kommissar sarkastisch. »Ich habe die Anzeige des Barons de Canabrava in meinem Büro gehabt, ich kenne sie, Leutnant. Die Besetzer von Canudos waren zweihundert, Frauen und Kinder mitgerechnet. Der Baron muß es wissen, er ist der Besitzer der Fazenda.«
»Tausend waren es, Tausende«, murmelt der Verwundete in der vordersten Hängematte, ein hellhäutiger, kraushaariger Mulatte mit Schulterverband. »Ich kann es beschwören, Senhor.«
Leutnant Pires Ferreira heißt ihn schweigen mit einer so heftigen Bewegung, daß er gegen das Bein des hinter ihm liegenden Verwundeten stößt und der Mann vor Schmerz aufheult. Der Leutnant ist jung, eher klein, er trägt einen gestutzten Schnurrbart wie die Gecken in Salvador, die sich zur Teestunde in den Konditoreien der Rua Chile treffen. Aber die Ermüdung, die Enttäuschung, die Nervenanspannung haben dem französischen Schnurrbart nun violette Augenringe, fahle Haut und einen mißmutig verzogenen Mund angefügt. Der Leutnant ist unrasiert, sein Haar zerzaust, die Uniform zerrissen, der rechte Arm liegt in einer Schlinge. Hinten spricht die brabbelnde Stimme immer noch von Beichte und Letzter Ölung.
»Ich bin in einer Fazenda aufgewachsen, ich habe gelernt, die Herden auf einen Blick zu zählen. Ich übertreibe nicht. Es waren weit über fünfhundert, vielleicht tausend.«
»Sie trugen ein riesiges Holzkreuz und eine Heiliggeist-Fahne«, fügt einer aus einer Hängematte hinzu.
Und ehe der Leutnant sie davon abhalten kann, erzählen andere wild durcheinander: Sie hätten auch Heiligenbilder und Rosenkränze dabeigehabt, und alle hätten auf diesen
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