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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Pfeifen geblasen oder Kyrie Eleisons gesungen und Johannes den Täufer, Maria, den guten Jesus und den Ratgeber hochleben lassen. Sie haben sich in den Hängematten aufgesetzt und machen sich gegenseitig das Wort streitig, bis der Leutnant ihnen befiehlt zu schweigen.
    »Und plötzlich fielen sie über uns her«, fährt er in der nun eintretenden Stille fort. »Sie sahen so friedlich aus. Wie eineFronleichnamsprozession. Weshalb hätte ich sie angreifen sollen? Und plötzlich schrien sie ›Nieder! Nieder!‹ und schossen aus nächster Nähe. Wir waren einer gegen acht, gegen zehn.«
    »›Nieder‹ haben sie geschrien?« unterbricht ihn die vorlaute Stimme.
    »Nieder mit der Republik«, sagt Leutnat Pires Ferreira. »Nieder mit dem Antichrist.« Er wendet sich wieder dem Kommissar zu. »Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Die Männer kämpften wie die Wilden. Über vier Stunden haben wir standgehalten, Senhor. Ich befahl den Rückzug erst, als uns die Munition ausging. Sie wissen, welche Probleme wir mit den Mannlichern gehabt haben. Dank der Disziplin der Soldaten konnten wir in nur zehn Tagen bis hier kommen.«
    »Der Rückzug ging schneller vonstatten als der Anmarsch«, knurrt der Kommissar.
    »Kommen Sie, kommen Sie, sehen Sie sich das an!« ruft ihnen der Arzt im weißen Kittel aus einer Ecke zu.
    Die Gruppe der Zivilisten und der Leutnant gehen zwischen den Hängematten durch zu ihm hin. Unter dem Kittel trägt der Arzt eine hellblaue Militäruniform. Er hat einem Mann mit indianischem Einschlag, der sich vor Schmerz windet, den Verband abgenommen und besichtigt interessiert den Leib des Mannes. Er zeigt es ihnen als Rarität: er hat an der Leiste eine faustgroße eiternde Wunde mit zuckendem Fleisch und geronnenem Blut an den Rändern.
    »Ein Dumdum-Geschoß!« ruft der Arzt begeistert, während er die nässende Haut mit weißem Puder bestreut. »Es explodiert im Körper wie ein Schrapnell, zerstört das Gewebe und reißt ein solches Loch. Ich habe das nur in den medizinischen Handbüchern der englischen Armee gesehen. Wie kommen diese armen Teufel zu diesen modernen Waffen? Nicht einmal das brasilianische Heer hat sie.«
    »Sehen Sie, Herr Kommissar«, sagt Leutnant Pires Ferreira triumphierend. »Sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Sie hatten Stutzen, Karabiner, lange Araberflinten, Macheten, Dolche, Knüppel. Wir hingegen mit unseren Mannlichern mit Ladehemmung und ...«
    Aber da schreit der Mann, der von Beichte und Letzter Ölung gefaselt hat, laut auf und spricht von Heiligenbildern, von derFahne Gottes, von Pfeifen. Er scheint nicht verwundet zu sein; er ist an einen Pfosten gebunden, und seine Uniform sieht weniger mitgenommen aus als die des Leutnants. Als er den Arzt und die Zivilisten-Gruppe auf sich zukommen sieht, winselt er, mit Tränen in den Augen:
    »Die Beichte, Senhores! Ich bitte Sie darum, ich bitte Sie!«
    »Ist das nicht der Kompanie-Arzt, Doktor Antônio Alves dos Santos?« fragt der Arzt im Kittel. »Warum haben Sie ihn angebunden?«
    »Er wollte sich umbringen«, stammelt Pires Ferreira. »Er hat auf sich geschossen, nur durch ein Wunder konnte ich noch seine Hand wegbiegen. Seit dem Kampf in Uauá ist er so, ich wußte nicht, was ich mit ihm machen sollte. Statt uns eine Hilfe zu sein, wurde er zu einem zusätzlichen Problem, vor allem auf dem Rückweg.«
    »Gehen Sie hier weg, Senhores«, sagt der Arzt im Kittel.
    »Lassen Sie mich mit ihm allein, ich werde ihn beruhigen.«
    Als der Leutnant und die Zivilisten der Aufforderung nachkommen, ist wieder die näselnde, inquisitorische Stimme jenes Mannes zu hören, der die Erörterung schon wiederholt unterbrochen hat:
    »Wie viele Tote und Verwundete insgesamt, Leutnant? In Ihrer Kompanie und bei den Banditen.«
    »Zehn Tote und sechzehn Verwundete bei meinen Männern«, antwortet Pires Ferreira ungeduldig. »Der Feind hat mindestens hundert Leute verloren. Das steht alles in dem Bericht, den ich Ihnen übergeben habe, Senhor.«
    »Ich gehöre nicht zur Kommission, ich bin vom Jornal de Notícias in Bahia«, sagt der Mann.
    Er ist anders als die Beamten und der Arzt im weißen Kittel, mit denen er gekommen ist. Jung, kurzsichtig, dicke Brillengläser. Er schreibt seine Notizen nicht mit dem Bleistift, sondern mit einem Gänsekiel. Er trägt zerknautschte Hosen, eine schmutzigweiße Jacke, eine Schirmmütze, die ganze Aufmachung wirkt falsch an der ungefälligen Gestalt, wie eine Verkleidung. In der Hand hält er eine Holztafel, auf

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