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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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unannehmbar für den Gläubigen. Und als er erfuhr, die Zivilehe sei eingeführt worden – als ob die von Gott eingesetzten Sakramente nicht genügten –, war er Manns genug, zur Stunde des Rats laut zu sagen, was die Pfarrer nur hinter vorgehaltener Hand flüsterten: Dieses Ärgernis sei das Werk von Protestanten und Freimaurern. Wie sicherlich auch diese anderen seltsamen und verdächtigen Anordnungen, von denen er in den Dörfern hörte: die Bevölkerungsstatistik, die Volkszählung, das Dezimalsystem. Den verstörten Sertanejos, die zu ihm gelaufen kamen und fragten, was dies alles zu bedeuten habe, erklärte es der Ratgeber, langsam, damit sie es verstanden: Sie wollten die Hautfarbe der Leute wissen, um die Sklaverei wieder einzuführen und die Dunkelhäutigen ihren Herren zurückzugeben, und ihre Religionszugehörigkeit wollten sie wissen, damit sie die Katholiken identifizieren konnten, wenn die Glaubensverfolgung begann. Ohne die Stimme zu heben, ermahnte er sie, auf solche Umfragen nicht zu antworten noch auch den Meter und den Zentimeter statt der Elle und der Handbreit zu übernehmen. Eines Morgens im Jahr 1893 hörten der Ratgeber und die Pilger, als sie nach Natuba kamen, ein Gesumm wie von wild gewordenen Wespen zum Himmel aufsteigen. Es kam vom Hauptplatz, wo sich Männer und Frauen versammelt hatten, um ein paar frisch angeschlagene Erlasse zu lesen oder sich vorlesen zu lassen. Man würde sie besteuern, die Republik würde Steuern von ihnen einziehen. Was sind Steuern? fragten viele Ortsansässige. So etwas wie der Zehnte, erklärten ihnen andere. So wie ein Bewohner früher von fünfzig Küken, die ihm geboren wurden, fünf der Mission geben mußte, und eine von zehn Aroben alles Geernteten, so verordne der Erlaß, daß ein Teil von allem, was einer erbte oder erzeugte, der Republik gehören solle. Die Leute müßten in den von nun an autonomen Rathäusern erklären, was sie besaßen und was sie verdienten, um zu erfahren, was sie bezahlen sollten. Alles, was versteckt oder zu niedrig veranschlagt worden wäre, würde der Steuereinnehmer für die Republik beschlagnahmen. Aus Instinkt, aus gesundem Menschenverstand und jahrhundertealter Erfahrung begriffen die Leute, daß dies vielleicht noch schlimmer sein würde als die Dürre, und die Steuereinnehmer noch raffgieriger als Aasgeier und Räuber. Verblüfft, verschreckt, zornig steckten sie die Köpfe zusammen und teilten sich ihre Ängste und ihren Zorn mit, und ihre ineinanderfließenden, verschmelzenden Stimmen ergaben jene kriegerische Musik, die zum Himmel von Natuba aufstieg, als der Ratgeber und seine Zerlumpten auf der Straße von Cipó das Dorf betraten. Die Leute umringten den Mann im violetten Kleid und verstellten ihm den Weg zu der Kirche Nossa Senhora da Conceição, die er in den vergangenen Jahrenmehrmals eigenhändig ausgebessert und angestrichen hatte, und berichteten ihm die Neuigkeiten, die er, ernst und durch sie hindurchsehend, kaum zu hören schien. Und doch, kaum einen Augenblick später leuchteten seine Augen wie von einer inneren Explosion, und er ging, ja lief durch die Menge, die ihm den Weg freigab, zu den Anschlagebrettern mit den Erlassen und riß diese ungelesen herunter, das Gesicht entstellt von einer Empörung, in der sich die Empörung aller zu verdichten schien. Dann bat er sie mit bebender Stimme, diese verfluchten Schriften zu verbrennen. Und als das Volk dies vor den erstaunten Augen des Gemeinderats tat und auch noch zu feiern begann und, wie auf dem Jahrmarkt, Raketen abschoß und das Feuer die Erlasse und den Schrecken, den sie verursacht, in Rauch auflöste, gab der Ratgeber, ehe er in die Kirche ging, um zu beten, den Menschen in diesem abgelegenen Winkel einen schrecklichen Vorgeschmack: Der Antichrist sei in die Welt gekommen und sein Name sei Republik.
    »Pfeifen, ja, Herr Kommissar«, wiederholt Leutnant Pires Ferreira, einmal mehr verwundert über das, was er erlebt und so oft überdacht und erzählt hat. »Sie klangen sehr laut in der Nacht. Genauer, am frühen Morgen.«
    Das Feldlazarett ist eine Holzbaracke mit Palmfaserdach, die man, so gut es ging, dafür hergerichtet hat, verwundete Soldaten aufzunehmen. Sie liegt außerhalb von Juazeiro, durch die Latten hindurch sieht man unter den staubigen Kronen der Bäume, die der Stadt ihren Namen gegeben haben, die weiß gekalkten oder farbig angestrichenen Häuser und die parallel zu dem schmalen Fluß São Francisco verlaufenden Straßen.
    »Wir

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