Der Kult - Cordy, M: Kult - The Colour of Blood
weißen Karateanzug und hielt einen riesigen Pokal in den Händen, der beinahe so groß war wie er selbst. Neben ihm standen Howard und Samantha Quail, sie waren damals noch jung, und lächelten wie stolze Eltern. Der Junge starrte mit wütendem Blick direkt in die Kamera, und als Fox zurückstarrte, sah er sein heutiges, erwachsenes Gesicht in der Spiegelung der Glasscheibe. Das Feuer in seinen Augen loderte nicht mehr so wild, doch die Glut war nicht erloschen. Er erinnerte sich noch gut an den Tag – etwa sechs Monate nachdem der junge verwaiste Fox nach Amerika gekommen war, um von nun an bei Howard und Samantha zu leben –, an dem sein Onkel dem Direktor an seiner neuen Schule versprochen hatte, etwas gegen die Aggressivität seines Neffen zu tun.
Fox, der mit einer Bestrafung oder zumindest einer kräftigen Standpauke gerechnet hatte, war überrascht gewesen, als sein Onkel mit ihm zum nächsten Kaufhaus fuhr und ihn anwies, im Wagen zu bleiben. Wenig später war er mit einer Schachtel zurückgekommen und mit ihm zu einem seltsamen Gebäude am Stadtrand gefahren. Howard hatte seinen Neffen am Eingang abgesetzt und war kurz darauf mit einem ernstblickenden Japaner zurückgekehrt. » Du bist wütend, Nathan, und das ist okay«, hatte sein Onkel gesagt. » Nach dem, was mit deinen Eltern und mit deiner Schwester passiert ist, kann ich mir nur vorstellen, was du durchmachst, aber du musst lernen, deine Wut zu kontrollieren.« Er zeigte auf den Japaner neben sich. » Sensei Daichi hat sich bereit erklärt, dir dabei zu helfen.«
Daichi hatte den Kopf zur Begrüßung gesenkt. » Willkommen in meinem Dojo, Nathan- kun.« Dann hatte er sanft Fox’ blaues Auge berührt. » Wenn du kämpfen willst, Nathan- kun, dann schlage ich vor, dass du lernst, wie man es richtig macht. Karate ist Selbstverteidigung, nicht Selbstzerstörung. Es geht darum, sich zu schützen und Körper und Geist zu formen statt zu schädigen. Seit fünf Jahren bin ich der Sensei deines Onkels, und wenn du es wünschst, werde ich auch deiner sein.« Daraufhin hatte sein Onkel die Schachtel geöffnet, einen weißen Karateanzug herausgenommen und ihn aufgefordert, sich umzuziehen.
Fox stellte das Foto wieder auf seinen Platz. Wenn er die Augen schloss, konnte er den stetigen Refrain seines Sensei hören: » Lass sie niemals zu nah herankommen und verlier niemals die Kontrolle.« Er griff in eine der Vitrinen und nahm eine antike minoische Vase heraus, die sein Onkel in Knossos ausgegraben hatte. Diese dreitausend Jahre alte Vase in seinen Händen gab ihm das Gefühl, das Gewicht der Geschichte zu spüren, als wäre es greifbar. Als er sie zurückstellte, fiel sein Blick auf ein abgegriffenes Manuskript auf dem obersten Regalboden über dem Schreibtisch. Fasziniert las er den Titel, blies den Staub fort und blätterte durch die Seiten. Sein Handy klingelte. Er holte das iPhone, das er sich für seine privaten Gespräche zugelegt hatte, aus der Tasche, aber natürlich war es sein Diensthandy, das klingelte. Auf dem Bildschirm des BlackBerry leuchtete der Name: Chief Detective Karl Jordache.
» Hallo, Karl.«
» Nathan, hast du ’ne Minute?«
» Sicher, was kann ich für dich tun?«
» Du hast doch sicher von der Frau gehört, die die Mädchen vor den Russen gerettet hat, oder? Wir haben genug Beweise, um die Kerle festzunehmen, aber die haben das Haus nur gemietet, und jetzt wollen wir uns mal den Eigentümer vornehmen. Hinten im Garten haben wir zwei Leichen von Mädchen gefunden, die versucht haben zu fliehen, aber es fehlen noch welche. Die Russen behaupten, sie hätten die Mädchen dem Eigentümer überlassen, damit er den Mund hält, aber der bestreitet das. Er sagt, ihm gehört weit mehr als das eine Haus hier in Portland und er hätte nicht den blassesten Schimmer davon gehabt, was die da getrieben haben. Sein Papierkram ist in Ordnung, aber irgendwas stimmt da nicht.«
» Was soll ich machen?«
» Das, was du am besten kannst: Unterhalt dich mit dem Kerl, finde raus, wie er tickt, und sag uns, was du denkst. Wir haben ihn hier in seinem Jagdhaus, etwa zwei Stunden von Portland entfernt. Wenn ich dir die Koordinaten rüberschicke, kannst du herkommen?«
Fox sah auf die Uhr. Er musste am Nachmittag wieder in der Stadt sein, aber die Vormittagstermine konnte er verlegen. » Ich komme, so schnell ich kann.« Er wartete auf die SMS mit den Koordinaten und steckte das Handy wieder zurück in die Tasche.
» Nathan, was machst du denn
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