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Der kurze Sommer der Anarchie

Der kurze Sommer der Anarchie

Titel: Der kurze Sommer der Anarchie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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industriell am höchsten entwickelte Region des Landes. Barcelona, die Metropole der Schiffahrt, des Exports, der Banken und der Textilindustrie, war schon um die Jahrhundertwende zum Brückenkopf des Kapitalismus auf der Iberischen Halbinsel geworden. Das Steueraufkommen per capita lag in Katalonien um das Doppelte über dem spanischen Durchschnitt. Abgesehen vom Baskenland ist dies der einzige Teil des Landes, der eine funktionsfähige Unternehmer-Bourgeoisie hervorgebracht hat; die katalanischen Industriellen und Bankiers waren nicht wie die Gutsbesitzer ausschließlich auf Verschwendung, sondern auf Akkumulation bedacht. Zwischen 1870 und 1930 ist in Barcelona und Umgebung ein riesiges, hochkonzentriertes Industrieproletariat entstanden.
Aber im Gegensatz zu vergleichbaren europäischen Regionen haben sich die katalanischen Arbeiter nicht der Sozialdemokratie und den reformistischen Gewerkschaften, sondern dem Anarchismus zugewandt, der hier seine zweite, seine städtische Basis fand. Bereits 1918 waren 80% aller Arbeiter in Katalonien anarchistisch organisiert. Dieser Umstand ist noch schwerer zu erklären als der Erfolg der Bakunisten auf dem Land. Die Soziologie kann einen ersten Hinweis geben. Die Arbeiterschaft des Industriegebiets von Barcelona ist nur zum geringsten Teil einheimisch; sie hat sich zur Hälfte allein aus den Dürreprovinzen Murcia und Almeria, also aus dem Süden, rekrutiert, und diese Binnenwanderung hat sich, auf Grund der strukturellen Arbeitslosigkeit auf dem Lande, bis heute fortgesetzt. Ein zweites Motiv stellen die zentrifugalen Kräfte dar, die in der spanischen Geschichte eine so große Rolle spielen.
Ein starker Lokalgeist, ein Drang zur Unabhängigkeit, zur Autonomie, ein beharrlicher Widerstand gegen die Herrschaftsansprüche der Madrider Zentralregierung zeichnet viele spanische Provinzen aus; aber nirgends macht er sich stärker geltend als in Katalonien, das in mancher Beziehung als eine Nation für sich gelten darf und das schon im siebzehnten Jahrhundert einen Unabhängigkeitskrieg gegen die spanische Monarchie geführt hat. Die ökonomische Sonderentwicklung hat diese Tendenzen nur noch verstärkt. Der katalanische Nationalismus hat ein doppeltes Gesicht. Sein rechter Flügel vertrat die Interessen der einheimischen Bourgeoisie; er benutzte die Frage der Autonomie, um den Klassenkampf zu mystifizieren. Aber auf der Seite der Massen wirkte die katalanische Frage als durchaus revolutionäres Moment. Das Verlangen nach Selbstverwaltung, der Haß auf die zentrale Staatsgewalt, das Bestehen auf der radikalen Dezentralisierung der Macht, das alles waren Motive, die sich im Anarchismus wiederfanden.
Nie und nirgends haben die Anarchisten sich als eine politische Partei verstanden; es gehört zu ihren Prinzipien, sich an parlamentarischen Wahlen nicht zu beteiligen und keine Regierungsposten zu übernehmen; sie wollen sich des Staates nicht bemächtigen, sie wollen ihn abschaffen. Auch in ihren eigenen Zusammenschlüssen wehren sie sich gegen die Konzentration der Macht an der Spitze der Organisation, in der Zentrale. Ihre Föderationen werden von der Basis her bestimmt; jede ihrer lokalen Gruppen genießt eine sehr weitgehende Autonomie, und jedenfalls in der Theorie ist die Basis nicht gehalten, sich den Beschlüssen der Führung zu beugen. Selbstverständlich hängt es von den konkreten Bedingungen ab, wie diese Prinzipien in der Praxis verwirklicht werden. In Spanien hat der Anarchismus seine endgültige Organisationsform erst 1910 gefunden, mit der Gründung des anarchistischen Gewerkschaftsbundes CNT (Confederacion Nacional del Trabajo). Die CNT war die einzige revolutionäre Gewerkschaft der Welt.
Sie hat sich nie als »Sozialpartner« verstanden, der mit den Unternehmern verhandelt, um die materielle Lage der Arbeiterklasse zu verbessern; ihr Programm und ihre Praxis bestanden darin, den offenen, permanenten Krieg der Lohnarbeiter gegen das Kapital bis zum endgültigen Sieg zu führen. Dieser Strategie entsprach ihr Aufbau und ihr taktisches Verhalten. Sie war nie ein Zusammenschluß von Beitragszahlern, und sie hat keine finanziellen Reserven akkumuliert. Ihr Mitgliederbeitrag war in der Stadt sehr geringfügig, auf dem Lande war die Mitgliedschaft oft ganz umsonst. Noch 1936 hatte die CNT bei über einer Million von Organisierten nur einen einzigen bezahlten Funktionär! Ein bürokratischer Apparat existierte nicht. Die Führungskader lebten von ihrer eigenen Arbeit im

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