Der kurze Sommer der Anarchie
auch bürgerlichen Ursprungs, über Bord zu werfen, fiele ihnen nicht im Traume ein. Das Analphabetentum einer »Szene«, deren Bewußtsein sich von Comics und Rockmusik bestimmen läßt, betrachten sie ohne Verständnis. Die »sexuelle Befreiung«, die uralte anarchistische Theoreme beim Wort nimmt, übergehen sie mit Schweigen. Diese Revolutionäre aus einer andern Zeit sind gealtert, aber sie wirken nicht müde. Was Leichtfertigkeit ist, wissen sie nicht. Ihre Moral ist stumm, aber sie läßt keine Zweideutigkeit zu. Sie verstehen die Welt nicht mehr. Die Gewalt ist ihnen vertraut, die Lust an der Gewalt tief verdächtig. Sie sind einsam und mißtrauisch; aber kaum ist die Schwelle, die sie von uns trennt, die Schwelle ihres Exils überschritten, öffnet sich eine Welt der Hilfsbereitschaft, der Gastfreundschaft und der Solidarität. Wer sie kennt, wundert sich, wie wenig ratlos, wie wenig verbittert sie sind; weit weniger als ihre jüngeren Besucher. Sie sind keine Melancholiker. Ihre Höflichkeit ist proletarisch. Ihre Würde ist die von Leuten, die nie kapituliert haben. Sie haben sich bei niemandem zu bedanken. Niemand hat sie »gefördert«.
Sie haben nichts genommen, kein Stipendium verzehrt. Wohlstand interessiert sie nicht. Sie sind unbestechlich. Ihr Bewußtsein ist intakt. Das sind keine kaputten Typen. Ihre physische Verfassung ist ausgezeichnet. Sie sind nicht ausgeflippt, sie sind nicht neurotisch, sie brauchen keine Drogen. Sie bedauern sich nicht. Sie bereuen nichts. Ihre Niederlagen haben sie keines Schlechteren belehrt. Sie wissen, daß sie Fehler gemacht haben, aber sie nehmen nichts zurück. Die alten Männer der Revolution sind stärker als alles, was nach ihnen kam.
Epilog
Die Nachwelt
Für viele Leute bedeutete Durrutis Tod das Ende ihrer Hoffnungen. Solange die Menschen glaubten, sie kämpften für die Revolution, war ihre Moral gut. Als sie sahen, daß es nur noch darum ging, den Krieg zu gewinnen, und daß alles andere beim alten bleiben würde, war es damit aus. Die Hoffnung auf eine neue Gesellschaft sahen viele in Durruti verkörpert. Der Tod von Durruti war schrecklich; denn er fiel zusammen mit dem Ende der revolutionären Stimmung in den Fabriken und in den Kollektiven auf dem Land.
Federica Montseny 1
Zwei Versionen der Rede von Luis Companys beim Begräbnis Durrutis
Genossen, in diesem Augenblick der Anspannung rufe ich euch auf zur Einigkeit, zur Disziplin, zur Strenge und zur Tapferkeit.
Für einen Augenblick fühlen wir die Tränen in uns aufsteigen.
Aber wozu weinen? Sollen wir über den Tod eines Mannes weinen, der seine Pflicht erfüllt hat und dem wir alle den Tribut unserer Bewunderung zollen? Weinen wir lieber über die Feiglinge oder über die Ruchlosen. Trocknen wir unsere Tränen, erheben wir den Arm und setzen wir unseren Weg fort, vorwärts, ohne innezuhalten. Der Name Durrutis soll uns als Vorbild dienen. Der Weg, den wir vor uns haben, ist noch schwer und mühselig. Vorwärts! Vorwärts!
Solidaridad Obrera
Durruti ist gestorben, wie nur die Feiglinge oder die Helden sterben, durch die Hand eines Feiglings, dem er den Rücken zuwandte. Der Tod trifft nur den im Rücken, der davonläuft oder der, wie Durruti, keinen Mörder findet, der es wagte, ihm vor die Augen zu treten. Durruti, wir grüßen deinen Mut! Dein Name hat sich dem Gefühl des Volkes tief eingeprägt. Wir bleiben zurück mit der einzigen Losung: Vorwärts! Jeder an dem Platz, an den ihn die Pflicht ruft, einiger denn je im Kampf gegen den Faschismus und für die Freiheit! Vorwärts ohne einen Blick zurück!
El Pueblo
Unabhängig davon, ob man mit Durrutis Ideen einverstanden ist oder nicht, muß man die Tatsache festhalten, daß er ein absolut prinzipientreues Leben geführt hat. Er war ein Anarchist, der als diszipliniertes Mitglied der Spanischen Volksarmee gefallen ist.
Durrutis Lebensgeschichte entspricht sehr genau der Entwicklung des spanischen Anarchismus in seiner Gesamtheit. Ebenso wie die reaktionäre Polizei Durruti stets als gewöhnlichen Verbrecher betrachtet hat, neigt die rechtsgerichtete Presse dazu, von der CNT und der FAI zu sprechen, als wären das einfach Banden von Halsabschneidern, Plünderern und Brandstiftern. In Wirklichkeit trägt die anarchistische Bewegung in Spanien stark idealistische Züge. Viele Anarchisten sind Nichtraucher und Vegetarier. Manche lehnen jeden Alkoholgenuß ab. Jede Art der Ausschweifung gilt als indiskutabel. In Madrid sieht man überall
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