Der kurze Sommer der Anarchie
Geschichte wählt. Das Interesse, das sich in seiner Suche verrät, zielt nicht auf Vollständigkeit. Der Nacherzähler hat weggelassen, übersetzt, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen, die erfand, seine eigene Fiktion eingebracht, mit voller Absicht und vielleicht auch wider Willen; nur daß diese eben darin ihr Recht hat, daß sie den andern das ihre läßt. Der Rekonstrukteur verdankt seine Autorität der Unwissenheit. Er hat Durruti nie gekannt, er war nicht dabei, er weiß es nicht besser.
Auch behält er nicht das letzte Wort. Denn der nächste, der diese Geschichte verwandeln wird, indem er verwirft oder zustimmt, vergißt oder behält, unter den Tisch fallen läßt oder weitererzählt, dieser nächste und vorläufig letzte ist der Leser. Auch seine Freiheit ist begrenzt; denn was er vorfindet, ist kein bloßes »Material«, absichtslos vor ihn hingekippt, in reiner Objektivität, untouched by human hands. Im Gegenteil. Alles, was hier steht, ist durch viele Hände gegangen, zeigt Spuren des Gebrauchs. Dieser Roman ist öfter ab einmal geschrieben worden, von vielen, nicht nur von denen, die am Schluß des Buchs verzeichnet sind. Der Leser ist einer von ihnen, der letzte, der diese Geschichte erzählt. »Kein Schriftsteller hätte sich entschlossen, sie zu schreiben.«
Verirrte Kugeln
Zwei Stadtansichten
Leon, Bischofssitz und Hauptstadt der gleichnamigen spani schen Provinz, liegt 851m über dem Meeresspiegel auf einem Hügel am Zusammenfluß der beiden Flüsse Torio und Bernesga, die den Leon-Fluß bilden. Bevölkerung (1900) 15 580.
Die Stadt ist an der Schnellzuglinie Madrid-Oviedo gelegen. Die alten Viertel mit der Kathedrale und anderen mittelalterlichen Bauwerken sind von einer Stadtmauer umgeben; sie haben durch die Erneuerung, die ihnen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zuteil geworden ist, nichts von ihrer Sehenswürdigkeit verloren. Zur selben Zeit sind außerhalb des Stadtwalles neue Vorstädte entstanden, um die industriell beschäftigte Bevölkerung aufzunehmen, die durch die Gründung einer Eisengießerei, einer Eisenbahn Werkstatt, einerchemischen undeiner Lederwarenfabrik angezogen worden ist. Leon setzt sich somit aus zwei Städten zusammen — einer alten von klerikalem und einer neuen von industriellem Charakter.
Encyclopaedia Britannica
Das Viertel von Santa Ana, in dem Durruti geboren ist, besteht aus alten, kleinen Häusern. Es ist ein proletarisches Viertel. Sein Vater war Eisenbahner, und auch seine Brüder haben fast alle bei der Bahn gearbeitet, ebenso wie Durruti selbst. Das gesellschaftliche Klima der Stadt war ganz vom Bischofssitz her geprägt. Es erstickte jede Idee und jede Handlung, die dem Klerus mißfiel. Leon war, mit einem Wort, eine Zitadelle des alten kirchlichen und monarchischen Spanien. Industriebetriebe gab es kaum. Alle Einwohner kannten einander. Eine starke Garnison, mehrere Abteilungen der Guardia Civil, zahlreiche Klöster, eine Kathedrale, ein Bischofspalais, ein Lehrerbildungs Seminar, eine Veterinärschule, ein starkes Kleinbürgertum, das Ruhe und Ordnung wollte: das war alles, und es war eine Umgebung, die keinen abweichenden Gedanken, kein widersprüchliches Temperament duldete. Auswanderung war die einzige Lösung. Ein Durruti konnte in Leon nie und nimmer Platz finden, zumindest nicht im Leon unserer Jugend, das die paar lauwarmen, harmlosen Republikaner, die es damals gab, bereits als subversive Extremisten und skandalöse Elemente ansah.
Diego Abad de Santillan
Auskünfte einer Schwester
1. Buenaventura Durruti ist am 14. Juli 1896 in Leon geboren.
2. Geschwister: acht, davon sieben Brüder und eine Schwester.
Davon sind heute (1969) noch am Leben: zwei Brüder und die Schwester.
3. Beruf: Mechaniker.
4. Lebenslauf. Trat mit fünf Jahren in die Volksschule zu Leon ein. Immer guter Schüler. Intelligent, etwas mutwillig, aber von gutmütigem Charakter. Besuchte auch die Sonntagsschule der Kapuzinerpatres in Leon, wo er verschiedene Auszeichnungen und Diplome bekam, die meine Mutter sorgsam aufbewahrt hat.
Von 1910 bis 1911 arbeitete er in der Werkstatt des Herrn Melchor Martinez für einen Tagelohn von 25 Centimes.
Ich erinnere mich, daß er damit unzufrieden war, weil ihm der Lohn zu gering schien. Meine Mutter war nicht dieser Ansicht, sie hielt den Lohn für hinreichend und sagte ihm, er lerne dort einen nützlichen Beruf, der ihn unabhängig machen werde. Er besuchte in dieser Zeit die Abendschule.
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