Der kurze Sommer der Anarchie
reicht über das Gesicht einer Person hinaus. Es bezieht die Umgebung ein, den Austausch mit konkreten Situa tionen, ohne den diese Person unvorstellbar ist. Sie definiert sich durch ihren Kampf. Das macht ihre gesellschaftliche Aura aus, die sich umgekehrt all ihren Handlungen, Äußerungen und Eingriffen mitteilt. Alles, was von Durruti berichtet wird, ist in ihr eigentümliches Licht getaucht; was an seiner Aura ihm selber zuzuschreiben ist, was den Erinnerungen derer, die von ihm sprechen, seine Feinde nicht ausgeschlossen, — das läßt sich nicht mehr entscheiden. Angeben läßt sich dagegen die Methode der Nacherzählung. Sie geht von der Person aus, und ihre Schwierigkeit läßt sich folgendermaßen darstellen. Zu rekonstruieren ist die Existenz eines Mannes, der seit fünfunddreißig Jahren tot ist und dessen Hinterlassenschaft sich beschränkt auf »Unterwäsche für einen Wechsel, zwei Pistolen, ein Fernglas und eine Sonnenbrille. Das war das ganze Inventar.« Gesammelte Werke liegen nicht vor, die schriftlichen Äußerungen des Toten sind äußerst spärlich. Sein Leben ist in seinen Handlungen aufgegangen. Diese Aktion war politisch und zu großen Teilen illegal. Es handelt sich also darum, ihre Spuren aufzufinden, die eine Generation später nicht mehr ohne weiteres zutage liegen; sie sind verwischt, vergilbt, nahe daran, vergessen zu werden. Dennoch sind sie zahlreich, wenn auch verworren. Der schriftliche Strang der Überlieferung liegt in Archiven und Bibliotheken vergraben. Es gibt aber auch eine mündliche Tradition. Viele, die den Toten gekannt haben, sind noch am Leben; sie gilt es ausfindig zu machen und sie zu befragen. Das Material, das sich auf diese Weise zusammentragen läßt, ist von verwirrender Vielfalt: Form und Tonfall, Gestus und Gewicht wechseln von einem Fragment zum andern. Der Roman als Collage nimmt in sich Reportagen und Reden, Interviews und Proklamationen auf; er speist sich aus Briefen, Reisebeschreibungen, Anekdoten, Flugblättern, Polemiken, Zeitungsnotizen, Autobiographien, Plakaten und Propagandabroschüren. Die Widersprüchlichkeit der Formen kündigt aber nur die Risse an, die sich durch das Material selber ziehen. Die Rekonstruktion gleicht einem Puzzle, dessen Stücke nicht nahtlos ineinander sich fügen lassen. Gerade auf den Fugen des Bildes ist zu beharren. Vielleicht steckt in ihnen die Wahrheit, um derentwillen, ohne daß die Erzähler es wüßten, erzählt wird. Das einfachste wäre es, sich dumm zu stellen und zu behaupten, jede Zeile dieses Buches sei ein Dokument. Aber das ist ein leeres Wort. Kaum sehen wir genauer hin, so zerrinnt uns die Autorität unter den Fingern, die das »Dokument« zu leihen scheint. Wer spricht? Zu welchem Zweck? In wessen Interesse? Was will er verbergen? Wovon will er uns überzeugen? Und wieviel weiß er überhaupt? Wieviel Jahre sind vergangen zwischen dem erzählten Augenblick und dem des Erzählens? Was hat der Erzähler vergessen? Und woher weiß er, was er sagt? Erzählt er, was er gesehen hat, oder was er glaubt gesehen zu haben? Erzählt er, was ein anderer ihm erzählt hat? Das sind Fragen, die weit führen, zu weit: denn ihre Beantwortung würde uns dazu zwingen, für jeden Zeugen hundert andere zu befragen; jeder Schritt dieser Überprüfung würde uns von der Rekonstruktion weiter entfernen und der Destruktion der Geschichte näher bringen. Am Ende hätten wir, was zu finden wir aufgebrochen sind, liquidiert. Nein, die Fragwürdigkeit der Quellen ist prinzipieller Art, und ihre Differenzen lassen sich durch Quellenkritik nicht auflösen.
Noch die »Lüge« enthält ein Moment von Wahrheit, und die Wahrheit der unbezweifelbaren Tatsachen, gesetzt, sie ließe sich finden, sagt nichts mehr aus. Das Opalisieren der Überlieferung, das kollektive Flimmern rührt von der dialektischen Bewegung der Geschichte selber her. Es ist der ästhetische Ausdruck ihrer Antagonismen.
Wer sich das merkt, kann als Rekonstrukteur nicht viel verderben. Er ist weiter nichts als der letzte (oder vielmehr, wie wir sehen werden, der vorletzte) in einer langen Kette von Nacherzählern dessen, was da vielleicht so oder vielleicht anders vorgefallen und im Verlauf des Erzählens zur Geschichte geworden ist. Wie alle, die ihm vorangegangen sind, will auch er ein Interesse zum Vorschein und zur Geltung bringen. Er ist nicht unparteiisch, er greift in das Erzählte ein. Sein erster Eingriff besteht bereits darin, daß er diese und keine andere
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