Der Kuss der Göttin (German Edition)
die einfach plötzlich da sind – eine Rettungsweste, ein schwimmender Baumstamm, ein kleines Boot. Aber sobald meine Finger sie berühren, verschwinden sie einfach, sie sind sogar noch weniger real als der Traum. Erschöpft paddle ich einfach im Wasser, aber meine Arme verheddern sich in meinen Haaren, die mich fesseln wie Seile.
Etwas zieht mich unter Wasser. Ich weiß nicht, ob es eine Strömung ist oder meine schweren Kleider. Warum trage ich schwere Kleider?
Ich gehe unter.
Ich strecke die Arme aus, suche nach etwas, woran ich mich festhalten kann, aber das Wasser steigt. Oder ich sinke.
Ich hebe das Kinn, versuche verzweifelt zu atmen und sehe einen großen, hellen Mond auf mich herabscheinen. Tränen brennen mir in den Augen, als mir klar wird, dass er das Letzte ist, das ich sehen werde, bevor ich sterbe – aber ich verspüre keine Angst. Ich fühle etwas anderes.
Einen schmerzlichen Verlust.
Dieses Wasser nimmt mir etwas weg.
Ich öffne den Mund und will schreien, aber eisige Flüssigkeit rauscht herein, füllt meine Kehle und tut mir bis zu den Kieferknochen in den Zähnen weh. Die Wasseroberfläche schließt sich über meinem Gesicht, doch meine Augen bleiben offen und sehen den hellen silbernen Mond an.
Verzweifelt schaffe ich es, mein Bewusstsein aus dem Traum zu reißen, und zwinge meine echten Augen, sich zu öffnen. Ein Mond begrüßt sie, der zum Glück durch mein Fenster scheint, nicht durch die wogende Oberfläche von eisigem Wasser. Meine Lungen brennen, und ich sauge die Luft ein, als hätte ich wirklich kurz vor dem Ertrinken gestanden. Als sich mein Herzschlag wieder beruhigt, fasse ich mir an die Stirn und spüre Schweißtropfen. Es ist Wochen her, seit ich so einen schlimmen Albtraum hatte.
Wochen . Ich weiß noch, als solche Albträume alle paar Jahre vorkamen.
Und damals hatte ich eine Mutter, in deren Bett ich schlüpfen konnte.
Ich werfe die Decke zurück, und auch wenn mir die Gänsehaut die Beine heraufkriecht, als die Nachtluft sie trifft, versichert mir der Schock zumindest, dass ich wach bin – der Albtraum ist vorbei. Meine Füße ruhen auf festem Holz und strampeln nicht in der undurchdringlichen Schwärze eines bodenlosen Sees.
Ein See – es war ein See.
Aber ich schiebe den Gedanken von mir. Ich will nicht über den Traum nachdenken. Er wirkt sowieso schon viel zu lange nach.
Seit der Therapiestunde ist alles ein bisschen aus dem Gleichgewicht. Das kommt vom Sprechen über meine Eltern.
Nein, ich muss ehrlich zu mir sein. Es ist mehr als das. Es ist dieser Typ. Dieses Haus. Das Dreieck.
Der Gedanke daran hat bereits den ganzen Abend an mir genagt – als hätte ich es schon einmal gesehen. Aber wo? Ich versuche, nicht zu sehr darüber nachzudenken, stehe mit wackligen Beinen auf und gehe durch den dunklen Raum zur Tür.
Warme Milch – das jahrhundertealte Heilmittel für Albträume.
In der Küche versuche ich, leise zu sein, aber als ich die Treppe knarren höre, bin ich nicht überrascht, Jays Kopf in der Tür auftauchen zu sehen. »Alles klar?«, fragt mich mein Onkel leise.
»Albtraum«, antworte ich und wedle mit meinem Löffel in Richtung Mikrowelle. Mehr muss ich nicht sagen. Sie sind daran gewöhnt.
Jay kommt vollends in die Küche und lehnt sich mit der Schulter an die Wand. Er hat leichte, aber eindeutige Ringe unter den Augen.
»Es tut mir leid, wenn ich dich aufgeweckt habe«, füge ich hinzu, aber er winkt ab und fährt sich mit den Fingern durch die schlafzerzausten Haare.
»Ich war sowieso wach. Mir war nicht so besonders – Schlafstörungen, weißt du. Vielleicht hat Reese recht und ich arbeite in letzter Zeit zu viel«, sagt er mit einer selbstironischen Grimasse. »Aber der Boss lässt alle wegen dieses neuen Virus Überstunden machen.« Er runzelt die Stirn. »Er ist … anders als alles , was ich je zuvor gesehen habe.«
Jay muss ungefähr fünfunddreißig sein, aber er sieht aus wie ein Mittzwanziger, der in Erwachsenenklamotten herumläuft. Wenn ich ihm auf der Straße begegnet wäre, hätte ich nie geglaubt, dass er Wissenschaftler ist, aber er ist tatsächlich irgendein spezialisierter Biochemiker.
Und er ist nett. Man kann gut mit ihm reden.
Ich kannte ihn nicht, bevor meine Eltern starben. Reese’ Mutter und mein Opa haben geheiratet, als sie und mein Vater fast erwachsen waren. Ich war acht oder so. Reese hatte gerade auf dem College angefangen und wohnte auf dem Campus, und ich habe sie in den ersten Jahren nie gesehen.
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