Der Kuss der Göttin (German Edition)
man mit der halsbrecherischen Geschwindigkeit herumfährt, die Reese bevorzugt, denn sie stehen normalerweise von der Straße zurückgesetzt und werden oft vom Blätterbaldachin eines alten Baumes geschützt. Aber wenn ich allein zu Fuß unterwegs bin, suche ich nach ihnen. Ich würde so gern ihre Geschichten kennen, aber ich traue mich nicht, an die Tür eines Fremden zu klopfen.
Stattdessen mache ich Fotos und denke mir selbst Geschichten aus. Ich schwöre, ich habe ungefähr tausend Fotos auf meinem Handy. Ich wünschte … ich wünschte, ich könnte sie zeichnen, malen.
Aber ich kann seit dem Unfall nicht mehr zeichnen.
Trotzdem haben diese alten Häuser etwas Beruhigendes; irgendwie rühren sie mich an. Ich ziehe mein Handy heraus, scrolle zu einem der Bilder von meinem Lieblingshaus und zoome es heran. Ich versuche, mir vorzustellen, wie ich mit Aquarellfarben die Holzbretter male, die hauchdünnen Vorhänge, die ich hinter den Fenstern sehen kann.
»… Ich dachte, es macht dir bestimmt nichts aus.« Reese schaut mich erwartungsvoll an, und mein Gehirn merkt langsam, dass sie mit mir spricht.
»Es tut mir leid, ich … was?« Ich stecke mein Handy in meinen alten roten Rucksack. Ich fürchte, mit den Gedanken woanders zu sein, ist in letzter Zeit eine Spezialität von mir.
Früher war ich nicht so.
»Macht es dir etwas aus, wenn wir unterwegs kurz Milch kaufen gehen? Wir haben keine mehr«, wiederholt Reese und dreht das Radio ein bisschen leiser.
Ich denke trübsinnig an den versnobten Bio-Supermarkt mit den regionalen Produkten, in dem Reese einkauft. Super. »Kann ich im Auto warten? Mein … mein Bein tut weh«, lüge ich.
Es ist nur mehr oder weniger eine Lüge. Der Gips ist seit drei Monaten ab, doch zersplittert ist das Wort, das die Ärzte benutzten, um die Brüche sowohl über als auch unter meinem rechten Knie zu beschreiben. Es dauert seine Zeit, sich von so etwas zu erholen, auch wenn man außer Acht lässt, dass ich seit meiner Gehirnoperation letztes Jahr sowieso nicht mehr allzu anmutig bin.
Zumindest sagen mir das die Physiotherapeuten immer, wenn ich mich entmutigen lasse.
Nur einen Augenblick lang erscheint eine Falte auf Reese’ Stirn, bevor sie meine Ausrede akzeptiert. »Klar – es dauert nur ein paar Minuten.«
Sie springt aus dem Wagen und eilt im Laufschritt auf den Laden zu. Sobald sie außer Sicht ist, drehe ich die Heizung auf und lehne den Kopf ans Fenster.
In den Ecken des Parkplatzes liegen immer noch ein paar schiefergraue Schneehügel, aber es wird nicht mehr lange dauern, bis sie ganz weggeschmolzen sind. Grüne Blätter recken sich durch das knittrige braune Gras vom letzten Jahr und überall in der Stadt sprießen die Tulpen.
Wenigstens hagelt es nicht, so wie gestern.
Es ist diese beinahe-frühlingshafte Jahreszeit – Jackenwetter, kein Mantelwetter. Aber das Wetter ist schon das ganze Jahr merkwürdig. Im Februar ist der ganze Schnee geschmolzen und die Wettervorhersage kündigte Dürre und Hitzewellen an. Aber zwei Wochen später wurde in einer einzigen Nacht fast ein Meter Schnee über uns abgeladen. Als die Schneepflüge sich endlich selbst ausgegraben und die Straßen freigeräumt hatten, war es wieder mehr oder weniger Winter. Es waren seltsame Monate.
Ich ziehe meine Jacke ein wenig fester um mich, denke an die paar Tage, die wir Temperaturen unter null hatten – ganz zu schweigen von dem Mörder-Eissturm davor –, und halte die Hände vor die Lüftung. Abgesehen von dem Kapuzenpulli bin ich nicht recht für den Winter angezogen. Ich sollte vielleicht etwas anderes als meine alten Tanktops und T-Shirts mit den Aufdrucken tragen, zumindest bis zum Sommer, aber dann hätte ich einkaufen gehen müssen, und ich gebe nicht gern Geld aus, das nicht mir gehört. Auch wenn Reese sagt , ihr Geld sei mein Geld. Allerdings werde ich bald nachgeben und mir eine neue Jeans kaufen müssen – diese hier ist an den Knien ziemlich fadenscheinig. Weil ich groß und ziemlich dünn bin, mit extrem langen Beinen, finde ich immer schwer Jeans, die nicht zu kurz sind. Wenn ich dann also einmal welche aufstöbere, trage ich sie, bis sie zerfetzt sind – was so ungefähr der Zustand der jetzigen ist.
Während meine Fingerspitzen warm werden, schaue ich über die langsam dunkler werdende Straße und lasse meinen Blick auf einem Haus gegenüber ruhen. Es ist kirschrot gestrichen und vor der Veranda blühen weinrote und gelbe Tulpen. Ein kleines Mädchen sitzt auf der
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