Der Kuss der Göttin (German Edition)
Also war es super, Reese und Jay endlich doch noch kennenzulernen.
Ich wünschte nur, es wäre aus einem anderen Grund gewesen.
»Wieder der Flugzeugabsturz?«, fragt Jay, der meinen Gesichtsausdruck bemerkt hat, leise.
Ich ziehe die Tür der Mikrowelle auf und halte sie damit an, bevor sie piepst und Reese auch noch weckt. »Ehrlich gesagt, nein.« Ich nehme die Porzellandose mit dem Zucker und löffle eine großzügige Portion in meine Tasse. »Ausgerechnet ertrinken.« Ich meide seinen Blick und rühre angestrengt.
»Glaubst du, dein Unterbewusstsein lässt es langsam hinter sich?«, fragt Jay, der ewige Optimist.
»Vielleicht.« Ich werfe einen Blick auf die Uhr am Herd.
2.36 Uhr.
»Mir geht es gut, Jay«, beharre ich. Jetzt, wo ich wieder ganz in der Realität angekommen bin, wünschte ich, er wäre nicht da – hätte meinen Ausraster nicht mitbekommen. »Du kannst zurück ins Bett gehen. Ich trinke das hier nur aus, dann lege ich mich auch wieder hin.«
»Bist du sicher?«, fragt Jay, und seine blassblauen Augen glitzern sogar in den düsteren Schatten der schlecht beleuchteten Küche. »Denn wenn du nicht allein sein willst, dann warte ich, bis du fertig bist.«
»Alles in Ordnung. Wie gesagt, es ging nicht um den Absturz, es war einfach ein ganz normaler Albtraum.« Noch während ich die Worte ausspreche, erinnere ich mich an die Eiseskälte des Wassers und das seltsame, hohle Gefühl des Verlustes. Normal ist auch nicht das richtige Wort.
Ich zwinge mein Gesicht zu einem leichten Lächeln und nehme einen Schluck von der schaumigen Milch. Ahhh! Das ist den Albtraum beinahe wert.
Beinahe.
Jay schenkt mir einen langen Blick, aber er kann nichts mehr tun und scheint es zu wissen. Mit einem Nicken dreht er sich um, bevor ich ihn beim Gähnen erwische – was ich trotzdem tue –, und macht sich wieder auf den Weg nach oben.
Als die Stufen leise knarzen, lasse ich mich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und trinke meine Milch. Mein Blick schweift über den mondbeschienenen Garten – so silbern, dass er aussieht wie ein Bühnenbild. Die Wärme der Milch breitet sich in meinem Körper aus, und als das Glas leer ist, geht es mir viel besser. Die bittere Kälte hat mich verlassen, und ich glaube, ich kann vielleicht wieder einschlafen.
Vielleicht.
Ich reibe einen Augenblick meine Schläfen, dann erstarren meine Finger, als eine Erkenntnis fast mit einem Klick in meinem Gehirn ankommt.
Ich weiß, wo ich dieses Dreieck schon einmal gesehen habe.
Ich versuche, leise zu sein, als ich nach oben eile und mein Handy von meinem Nachttisch hole. Meine Füße wandern zum Fenster hinüber, während ich ein paar Fotos durch scrolle, die ich bei einem meiner Geschichts-Spaziergänge gemacht habe. Unten an der Fifth Street – zwischen Piper- und Sandstreet. In dem Stadtteil, wo der alte Geldadel wohnt.
Da! Ein weißes Haus, geschmückt mit sechs wundervollen Giebeln und verschnörkelten Dachvorsprüngen. Ich klicke ein paar Bilder weiter, bis ich eine gute Aufnahme des Haupteingangs finde – eine fröhliche grüne Tür mitten zwischen frischen weißen Wänden.
Und da ist es. Auf dem Foto blitzt und blinkt es nicht wie das Dreieck an dem Haus von dem Typen. Und obwohl das Foto nicht ganz scharf ist, ist es eindeutig da – ein schwach glühendes Dreieck.
Ich habe es nicht einmal bemerkt, als ich das Foto machte. Was bedeutet es? Ein Teil von mir glaubt, es ist wahrscheinlich nur eine Art verrücktes Kennzeichen des Erbauers, aber aus irgendeinem Grund erscheint mir das nicht ganz richtig. Ich setze mich auf die Fensterbank und lehne mich mit dem Rücken an die Wand, ziehe nervös an einer kurzen Locke, während ich in den Garten hinunterspähe.
Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit. Eine große, dunkle Gestalt taucht gerade am Waldrand auf. Wahrscheinlich nur ein hungriges Reh, denke ich. Blinzelnd spähe ich in die tiefe Dunkelheit und erschrecke, als ein Mensch auf die Wiese tritt. Er trägt einen langen Mantel, einen Hut und …
Es ist der Typ von der Veranda . Der, den ich am Nachmittag gesehen habe.
Der Schreck fährt mir in die Glieder, erschüttert meine Knochen, die plötzlich wieder eiskalt sind. Es ergibt keinerlei Sinn, aber ich sehe den blonden Pferdeschwanz und ich … ich weiß es einfach. Er ist es.
Er ist mitten in der Nacht vor meinem Haus.
Ist er mir gefolgt? Was um alles in der Welt tut er da? Jede Faser der Vernunft in mir schreit, ich solle Jay holen gehen. Er schläft nur
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