Der Kuss der Göttin (German Edition)
bei einem Autounfall gebrochen. Niemand hinterfragt das. Manchmal sagen sie mir, ich hätte Glück, noch am Leben zu sein .
Die Leute, die so etwas sagen, haben nie einen nahestehenden Menschen verloren.
Meine Ärzte wissen, was passiert ist, meine Psychotherapeutin Elizabeth und natürlich Reese und Jay, aber sonst niemand. So sind es weniger Leute, die den Medien verraten könnten, wo ich bin, denn die würden zu gerne über mich herfallen und eine Exklusiv-Story abgreifen, auch noch Monate danach.
Na ja, Benson habe ich es auch erzählt. Genauer gesagt hat Benson es aus mir herausgeholt. Nicht ganz ungewollt. Je näher ich Benson kam, desto mehr wollte ich es ihm erzählen. Aufhören zu lügen. Als es endlich heraus war, war es eine riesige Erleichterung. Es war schön, die Wahrheit zu sagen. Vor allem jemandem, den ich ausgesucht hatte.
Ich habe Reese gegenüber nicht erwähnt, dass ich ihm alles erzählt habe. Ich weiß nicht, ob sie sauer wäre oder nicht – es ist schließlich mein Leben –, aber die Tatsache, dass ich mir nicht sicher bin, ist Grund genug für mich, es ihr nicht zu sagen.
Abgesehen davon wird Benson mein Geheimnis bewahren.
Manchmal denke ich, ich brauche ihn – unsere ungezwungene Kameradschaft –, und das macht mir Angst.
Alle, die ich in meinem Leben je gebraucht habe, sind tot.
Sobald ich auf Senden gedrückt habe, schießt mein Blick wieder zu dem großgewachsenen Jungen mit dem kleinen Mädchen, aber sie sind hineingegangen. Ich versuche, die seltsame Melancholie abzuschütteln, die mich erfasst. Ich starre auf das Haus – und wünsche wohl, dass die Fremden wieder erscheinen –, und gerade als ich blinzle, blitzt etwas über der Tür auf. Ich öffne weit die Augen, aber das Blitzen ist weg …
Nein, nicht ganz weg …
Beinahe wie ein Schatten im Augenwinkel, so schwach, dass ich ein paar Mal blinzeln muss, um sicherzugehen, dass ich sie sehe, glänzt eine Kontur direkt über der Tür. Ein Dreieck.
Und aus Gründen, die ich weder verstehe noch erklären kann, beginnt mein Herz zu rasen.
K apitel 3
N ormalerweise handeln meine Albträume von dem Absturz, von den Augenblicken, an die ich mich nicht erinnere. Manchmal muss ich zusehen, wie die Körper meiner Eltern in Zeitlupe zerrissen werden; Blut spritzt mir in die Augen und färbt meine Sicht in diesem unverwechselbaren Rot. Manchmal bin es ich – meine Hände –, die in den Trümmern zerquetscht werden. Sie biegen sich in unnatürlichen Winkeln, die Knochen knicken, bis alles nur noch eine übel zugerichtete Masse ist.
Denn das hätte passieren müssen.
Vielleicht bin ich morbid, aber während ich im Krankenhaus lag, habe ich viel Zeit im Internet verbracht und mir Fotos von der Absturzstelle angeschaut. Und obwohl die Medien meinen Namen nicht erfahren haben, wussten sie, auf welchem Sitz ich saß.
»Laut den Analysten hätte es den Rahmen hier und hier zusammendrücken müssen«, sagte eine Reporterin und zeigte auf zwei Stellen der Passagierkabine. »Aber Sie können sehen, dass das Innere des Flugzeugs vollkommen unberührt aussieht. Der Passagier auf 24F, laut Aussage der Fluglinie eine weibliche Minderjährige, erlitt lebensbedrohliche Verletzungen, überlebte aber in diesem höchst unwahrscheinlichen Kokon, den die Experten nicht erklären können. Es ist, als wäre dieser Teil des Flugzeugs gar nicht an dem Absturz beteiligt gewesen.«
Ich meide Berichte, in denen die Opfer gezeigt werden. Reihen um Reihen von Leichen, manchmal ragen gebrochene Arme oder Beine unter den Tüchern hervor. Die kann ich mir einfach nicht anschauen.
Ein Teil von mir fürchtet, ich könnte meine Eltern unter den Leichen erkennen: die linke Hand meiner Mutter mit dem Ehering, den Knöchel meines Vaters mit einer Armee-Tätowierung, die sich seine Wade hinaufwindet.
Ein anderer Teil von mir ist einfach von Schuldgefühlen überwältigt, weil ich von 256 Passagieren die Einzige war, die irgendwie überlebt hat.
Aber in dieser Nacht gibt es keine Leichen, kein Blut.
Es gibt überhaupt kein Flugzeug.
Ich schwebe.
Ich schwimme. Im Meer? Einem Fluss? Einem See? Ich weiß es nicht.
Aber es ist kalt. Die Art Kälte, die sich eher wie eine Klinge auf der Haut anfühlt, die einem die Haut abzieht und die Knochen freilegt. Obwohl ich irgendwie weiß, dass es ein Traum ist, zittere ich.
Meine Haare sind lang und offen, treiben um mich herum, und als ich bemerke, dass ich unter Wasser gezogen werde, greife ich nach Gegenständen,
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