Der Kuss der Russalka
er sich und deutete auf den Fluss. »Dein Vater hat es dir erzählt, nicht wahr?«
»Dass du zur See gefahren bist? Ja, er hat es erwähnt.«
»Es ist keine Heldentat«, sagte Michael. »Glaube es mir einfach. Ich kenne die Sehnsucht nach dem Meer, ich musste lügen, wenn ich sagen würde, ich verspüre sie nicht mehr, aber in Wirklichkeit waren es Einsamkeit, Entbehrungen und Stürme, die nur im Licht der Gewissheit, sie überlebt zu haben, in wunderschönen Farben erstrahlen. Es ist nichts für dich.«
»Woher willst du das wissen?«, erwiderte Johannes. »Nur eine Meile von hier baut Zar Peter seine Flotte. Russland wird eine riesige Seemacht werden! Es wird Arbeit geben. Eines Tages könnte ich … ein eigenes Schiff haben.«
Michael sah ihn scharf an. »Weißt du, was du dafür alles lernen musst?«, gab er zu bedenken.
»Nichts, was der Zar nicht auch gelernt hätte. Er hat auf seinen Reisen beim Baumeister Brant gelernt und sogar als Schiffszimmermann auf den englischen Docks gearbeitet.«
»Das ist richtig«, sagte Michael. Sein Blick verdüsterte sich wieder. »Aber der Zar hat die Mittel dafür. Du besitzt kein Geld – dein kostbarstes Gut ist dein Leben. Hüte es, Johannes. Ich will deinem Vater nicht schreiben müssen, dass du ertrunken bist wie dein Bruder.«
Johannes kniff die Lippen zusammen. Da war er wieder, der dumpfe Schmerz über Simons Tod. Fast hasste er Michael in diesem Moment dafür, dass er wieder an dieser Wunde rührte.
»Ich möchte dir nicht einreden, dass es unmöglich ist«, fuhr Michael sanfter fort. »Nur bitte ich dich, sehr gut zu überlegen, was du tust. Ich gebe dir noch zwei Jahre. Wenn du dann versuchen willst zu den Schiffsbauern zu gehen, steht der Weg dir frei.«
Johannes hob den Blick und sah seinen Onkel ungläubig an. »Warum?«, brachte er heraus.
Michael seufzte. »Warum, warum? Weil du ein noch größerer Dickkopf bist, als Simon es je war. Du bist als schweigsamer Lehrling zu mir gekommen – aber du bist schlau!«
»Danke!«, sagte Johannes. Er war so verwirrt, dass ihm weitere Worte fehlten.
Michael stand auf und rieb sich verlegen die Hände.
»Danke mir nicht zu früh«, sagte er sehr leise. »Und liebe deinen Zaren nicht zu sehr. Zumindest nicht mehr als dein Leben.«
Mit einer barschen Geste scheuchte er Johannes zurück an die Arbeit. Er beeilte sich, den Hammer zu ergreifen und wieder ans Werk zu gehen. Die Freude über Michaels Vorschlag gab ihm das Gefühl, hundert Tage und Nachte arbeiten zu können ohne zu ermüden. In seinem Kopf sang es. Die täglichen Sorgen, selbst die Tote aus der Newa und Derejew waren mit einem Mal Tausende von Meilen entfernt. Im Geiste sah er sich bereits in der Admiralität arbeiten. Nicht weit von hier entfernt stand diese Schiffswerft. Hohe Erdwälle und ein Wassergraben umgaben das Gebäude mit dem u-förmigen Grundriss. Gerade jetzt, als Johannes eine Meile entfernt stand und Gerüste für die zukünftigen Häuser der Offiziere und Adligen zimmerte, wurde im Innenhof der Werft an den Schiffen für Zar Peters Flotte gebaut.
Mühsam nur unterdrückte Johannes das breite Grinsen, das sich ständig auf sein Gesicht schleichen wollte, und holte mit dem Hammer aus. In diesem Moment sah er in schlammgrüne Augen. Der Hammer kam aus dem Takt und verfehlte den Nagel. Stattdessen schlug er mit einem Krachen eine unschöne Kerbe in das Kiefernholz. Der Gottesnarr Mitja stand vor dem Gerüst und starrte Johannes an. Der zerlumpte Soldatenmantel schlotterte um seinen Leib. Als er sah, wie sehr er Johannes aus der Fassung gebracht hatte, grinste er triumphierend, was ihn mit einem Mal erschreckend klug aussehen ließ, drehte sich um und lief davon.
* * *
Seit dem Vorfall mit der Toten aus der Newa waren sieben Tage vergangen, als vor der Werkstatt Geschrei und auf geregtes Fußgetrappel ertönte. Schon wenn die Gehilfen die schweren, raschen Schritte von hohem Besuch hörten, veränderte sich die Atmosphäre in der Werkstatt. Einige Dinge, wie staubige Lumpen oder stumpfes oder beschädigtes Werkzeug, verschwanden, anderes dagegen, wie Brot, Gebackenes und ein Krug Kwass, wurde hastig herbeigeholt. Auch heute war es so.
Johannes und Iwan, die gerade gemeinsam an der Sägebank standen, sahen sich an und dachten in diesem Augenblick wohl dasselbe. Aber während Iwan bei dem Gedanken, der Zar persönlich könnte in die Werkstatt kommen, blass wurde, fuhr Johannes erwartungsvoll hoch und rannte zur Tür. Es war nicht
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