Überm Rauschen: Roman (German Edition)
1
In unserer Kindheit war für meinen Bruder und mich das ganze Haus voller Geräusche und Angst, nur das Rauschen des Wehrs, das sich hinter der Gaststätte befand, beruhigte uns. Abends lagen wir im Bett, glaubten, dieses Rauschen übertöne alles, und wir trieben wie leblos, mit ausgebreiteten Armen, langsam auf das rauschende Wehr zu, nur ein unendlicher Sternenhimmel über uns.
Doch das ist lange her; jetzt ist das Jahr 1996, ich bin mittlerweile fünfundvierzig, mein Bruder Hermann ist zwei Jahre älter. Es ist Frühherbst, das Laub beginnt sich zu färben, Erlenblätter taumeln von Uferbäumen, treiben im Fluss, in dem ich stehe und versuche, einen Fisch zu fangen. Ich trage Hermanns Angelsachen, seine bis unter die Brust reichende Wathose, den Fischkorb, die Weste, den Hut mit den bunten Köderfliegen, die er alle selbst gebunden hat, und seine Angelrute, eine schwarze über zwei Meter lange Glasfiber mit gelben Ringbindungen. Ich versuche, den großen Fisch zu erwischen, stelle mich aber ungeschickt an, werfe nicht zielgenau, sodass die Schnur sich verheddert, sie bleibt im Ufergestrüpp hängen, und ich verliere wertvolle Köder – wie früher, als ich mit Vater und Hermann zum Angeln ging. Damals verlor ich die Köder allerdings absichtlich, denn Angeln und der Fluss bedeuteten mir nichts. Für Hermann hingegen war es alles. In der Zeit, in der er nicht hier war, sondern zur See fuhr, redete er auf den Kassetten, die er uns schickte, andauernd von seinem großen Fluss. Ich dachte immer, der Fluss, die Fische und seine Alma würden ihm genügen, er wäre glücklich damit. Aber es war anders gewesen, wie sonst hätte es so weit mit ihm kommen können, dass sie ihn gestern Abend abgeholt haben – vielleicht ist er ja wirklich geisteskrank, und vielleicht sperren sie ihn für länger ein.
Alma gab mir gestern Abend, nachdem sie die Gaststätte hinter den letzten Gästen geschlossen hatte, Hermanns Angelausrüstung, sie meinte, mein Bruder hätte sie mir ohnehin geben wollen. Außerdem sagte sie, es wäre besser für mich, wenn ich einige Tage hierbliebe und nicht gleich wieder in die Stadt zurückkehrte. Ich denke, es ist auch für Alma gut, jetzt nicht allein zu sein. Sie war es, die mich angerufen und gesagt hatte, dass Hermann sich seit Tagen in seinem Zimmer eingeschlossen habe und mit niemandem reden wolle, sie hatte erzählt, wie sehr er sich in den letzten Monaten, seit dem Verschwinden der Holländerin, verändert habe, dass er immer sonderbarer geworden sei. Als ich mit ihr telefonierte, hörte ich im Hintergrund Gäste an der Theke. Alma flüsterte: «Ich glaube, dein Bruder ist krank, er redet dauernd von diesem alten Fisch – Ichthys –, weißt du noch, genau wie euer Vater damals. Sartorius meint, Hermann brauche Hilfe, aber dein Bruder lässt ja niemanden ins Zimmer und spricht auch mit keinem – auch mit Sartorius nicht, dabei hat der es doch immer gut mit ihm gemeint.»
Sie berichtete, Hermann habe sich zuletzt nur noch für seine Köder interessiert. Er angelte nicht mehr, sondern hockte nur von morgens bis abends am Fluss, beobachtete Mücken und Eintagsfliegen überm Wasser. Wenn er dann abends zurückkam, ging er hinter die Theke, trank Schnaps, gab Runde um Runde aus, erzählte wirre Geschichten, stellte sich auf den Tisch, schrie grundlos herum, grölte Lieder und hielt großspurige Reden, die an unseren Vater erinnerten. Er machte sich bei allen lächerlich, beschimpfte die Gäste und warf sie dann einfach aus der Gaststätte.
Alma bat mich, sofort zu kommen, sie wisse nicht mehr weiter. Auch meine Schwestern wollten kommen. Alma hatte sogar sie um Hilfe gebeten, obwohl Alma und meine Schwestern seit unserer Kindheit, seit Alma in unserer Gaststätte ihre Ausbildung gemacht hatte, wie Feuer und Wasser waren.
Ich nahm mir für einige Tage frei und fuhr nach der Arbeit mit dem Zug in die Eifel. Seit Jahren war ich nicht mehr zu Hause gewesen, hatte nur wenig von meinem Bruder und den Schwestern gehört. Zuletzt war ich nicht einmal mehr zu Mutters Geburtstagen und an Weihnachten nach Hause gefahren. Alles, was ich über meine Familie erfuhr, stammte von gelegentlichen Telefonaten mit Alma oder von den Kassetten, die Hermann mir weiterhin regelmäßig schickte, deren Inhalt aber immer verworrener wurde.
2
Die Tonkassetten, die Hermann mir all die Jahre über schickte, tragen Aufschriften wie: Sommerregen, Fluss, Gumpe, Kolk, Tumpf, Kessel, Nymphen, Einmündungsgebiete,
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