Der Kuss der Russalka
bezeichnen, wir dürfen ihn nicht verärgern.«
»Ich habe ihn nicht verärgert.«
»Heute nicht, weil er zufällig gute Laune hatte. Aber an einem anderen Tag, in einer anderen Stimmung hätte er dich auf vielerlei Art bezahlen lassen können. Für ein lächerliches Holzschiff!«
»Es ist die Sankt Paul«, erwiderte Johannes eisig.
Onkel Michael schüttelte den Kopf. »Ein Spielzeug ist es«, sagte er verächtlich. »Du spielst damit, wie du mit deinem Leben spielst. Mein Gott, du bist ebenso leichtsinnig und verbohrt wie dein Vater! Ich werde nicht schlau aus dir – was geht in deinem Rübenkopf vor?«
»Was geht in deinem Kopf vor?«, erwiderte Johannes. »Wenn es so ist, wie du sagst, sei doch froh, dass du mich loswirst!« Die Wut und die Scham darüber, von seinem Onkel geschlagen worden zu sein, saß tief. Noch schlimmer aber war die Beleidigung gegen seinen Vater.
Onkel Michael sah ihn traurig an. Dann stand er auf, schlurfte zur Werkstatttür und schloss sie. »Die Werft ist eine Versuchung«, sagte er leise. »Ich verstehe dich, Johannes, besser als du denkst. Du meinst, du kannst die Hunde erst von der Kette lösen und sie dann mit einem Pfiff wieder einfangen. Aber du überschätzt dich.« Wenn du wüsstest, dachte Johannes, was es für Hunde sind, die um unsere Werkstatt herumschleichen.
»Der Zar ist ein kranker Mann«, sagte Michael leise. »Und krank geworden sind wir beide am selben Tag. Damals war ich jünger als du heute. Mein einziger Freund in diesem fremden Land war Stephan Gaden – ein Arzt, der am Hofe angestellt war. Wenn er genug hatte von der Zarenfamilie, den russischen Gesängen und der muffigen Luft hinter den dicken Mauern der Kremlpaläste, kam er zu mir und wir tranken zusammen. Zar Peter war damals ein Knabe. Wie du weißt, war sein Vater, Zar Alexej, zweimal verheiratet. Als er starb, wurde Peters Halbbruder Fjodor der neue Zar. Doch er starb schon bald, kaum zwanzig Jahre alt und kinderlos. Zar Peter stammte aus der zweiten Ehe. Eigentlich hätte sein Halbbruder, der Zarewitsch Iwan, die Erbfolge antreten sollen, aber da er schwachsinnig war, bestimmten die höchsten Würdenträger Peter zum Nachfolger. Die Familie der ersten Frau fühlte sich um ihre Erbfolge gebracht. Sie streuten das Gerücht, Iwan sei tot und Peters Sippe habe ihn ermordet, und wiegelten die Strelizen auf – die Kreml-Garde. Und die Strelizen riefen zur Rebellion gegen ihre eigenen Kommandeure und gegen die Zarenfamilie.« Er schluckte. »Im Mai stürmten sie in den Palast und brachten vierzig Verwandte von Peter um. Fürst Michail Dolgorukij, ein Strelizenkommandeur, war der erste, den seine eigenen Soldaten über die Brüstung in die Spieße und Hellebarden stießen. Die rasende Meute erschlug zwei Brüder der Zariza, dann stürzten sich die Strelizen auf einen Arzt, den sie der Giftmischerei bezichtigten.« Er starrte auf seine Hände. Sie zitterten.
»Stephan Gaden«, flüsterte Johannes.
Michael nickte kaum merklich. »Seit diesem Tag bin ich nicht der Einzige, der nicht mehr schlafen kann. Auch der Zar findet keine Ruhe mehr und träumt von dem Blut. Beide sind wir krank. Es ist die Krankheit des Misstrauens. Verstehst du jetzt, warum ich nicht möchte, dass du ihn verärgerst? Für dich ist er einfach ein Zar. Ich aber habe gesehen, dass er aus Rache auch ein Folterknecht und Bluttrinker sein kann.«
»Dann … ließ er die Strelizen bei ihrem zweiten Aufstand vor einigen Jahren aus Rache hinrichten?«, fragte Johannes.
Onkel Michael wischte Johannes’ Worte aus der Luft wie eine lästige Fliege. »Was für ein Aufstand?«, sagte er verächtlich. »Es gab keine richtigen Beweise, die Geständnisse waren oft unter der Folter erzwungen worden. In seiner Anklage hieß es, die Aufrührer hätten geplant, die Deutsche Vorstadt niederzubrennen, uns zu töten und Sofia, die Halbschwester des Zaren, als Regentin einzusetzen. Ich glaube, es war pure Rache. Du warst nicht dabei. Du hast nicht gesehen, wie er wütete.« Onkel Michael hatte sich in Rage geredet. Johannes hatte Angst, als er das gequälte Gesicht sah. Ihm war, als würden ihn alle Albträume und alle Bilder, die Michael nachts vor sich sah, anspringen wie Kobolde. Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten, aber er war zu starr vor Abscheu. »Die Hinrichtungen fanden überall statt – auf dem Schönen Platz, vor den Toren der Stadt und bei den Regimentern. Auf dem Hügel neben den Kasernen von Bebraschensko, wo
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