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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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irgendwo zwischen Newa und Werkstatt verloren. Sie fehlte ihm nicht halb so sehr wie sein Freund Jewgenij. Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Neben Jewgenijs Bild tauchte die Russalka auf – lachend, listig und verführerisch, ein Wesen, das es nicht gab, ein Katzenfisch und Wellenmensch.
    Ein Wesen, das bald tot auf dem Grund der Newa liegen oder vielleicht mit Sägespänen ausgestopft die Hauptattraktion in Zar Peters Monstrositätenkabinett sein würde. Der Zar, der Johannes eine Zukunft als Schiffszimmermann ermöglicht hatte, war Jewgenijs Feind. Johannes stand zwischen Freund und Feind. Und wenn er ehrlich war, dann war es Jewgenij, zu dem er lief, Jewgenijs Wort war wichtiger als Christines Lächeln, das Leben der Russalka wichtiger als das Achterdeck und das tintenblaue Meer. Ich bin dumm, dachte Johannes mit einem grimmigen Stolz. Aber ich werde keinen Fuß in die Werft setzen, solange die Russalka in Gefahr und Derejews Plan nicht vereitelt ist. Er würde beide retten – die Russalka und den Zaren.
    Mit Leichtigkeit schob er sein neues Leben beiseite und besann sich auf die Vergangenheit. Schritt für Schritt ging er seine Erkenntnisse durch. Derejew hetzte gegen die Deutschen und spielte ein doppeltes Spiel. Teil dieses Spiels war es, die Existenz der Russalkas zu verheimlichen. Er schützte die Russalkas vor dem Zugriff des Zaren. Warum? Die Russalkas wiederum warteten auf ihren Herrn, der ihnen die Perle bringen würde. Die Perle befand sich bei einem Adligen in Moskau, einem Bojaren und Altgläubigen, der vielleicht schon auf dem Weg nach Sankt Petersburg war. Es gab keine Verbindungen und dennoch ertastete Johannes in der Dunkelheit der Gedankenkammer, in der er noch umherirrte, einen seidenen Faden, der ihn zu etwas Größerem führen würde, zu der Schatzkiste voller Geheimnisse. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn er sich von seinem Onkel trennte. Dadurch würden Michael und Marfa nicht in Gefahr geraten, falls Johannes scheitern sollte. Er würde die Fuhrleute befragen und versuchen herauszufinden, wer der Bojar war und ob sich jemand mit einer solchen Truhe auf dem Weg nach Sankt Petersburg befand. Und er würde herausfinden, von wem Derejew Briefe bekam.
    Zufrieden und erleichtert schloss Johannes die Augen. Das Tuscheln der beiden Gehilfen, die glaubten, er sei schon längst eingeschlafen, klang wie das Geräusch von Wellen und schläferte ihn ein. Bevor er sichs versah, stand er auf einem Schiff und sah zu, wie der Bug die Wellen schnitt. Leiber blitzten in den Wellenkronen auf, die Russalka lachte ihm zu und winkte mit ihrem weißen Arm. Johannes lächelte. Der Himmel wurde dunkel und die See war plötzlich sturmgepeitscht. Johannes verlor das Gleichgewicht und griff nach der Holzreling. Glühend heiß war sie, Schmerz durchzuckte seine Hand und schoss den Arm hinauf. Der Gestank von verbranntem Fleisch ließ ihn zurückzucken, doch er sah, dass er gefesselt war. Ein Eisenring war um sein Handgelenk geschmiedet. Die Reling hatte sich in ein glühendes Foltereisen verwandelt.
    In Zar Peters Augen tanzte die Flamme des Folterfeuers. »Wo ist die Russalka?«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Du weißt es!«
    »Nein!«, schrie Johannes. Verzweiflung erfüllte ihn, als er erkannte, dass er seine Lüge nicht lange würde aufrechterhalten können. Im Hintergrund gähnte eine Folterkammer, rußschwarz und schrecklich wie der Schlund der Hölle. An Ketten hing ein Gefangener mit struppigem schwarzem Haar – Jewgenij!
    »Nein«, flüsterte Johannes, während Zar Peter ihn düster betrachtete. Tränen brannten auf Johannes’ versengten Wangen. Im selben Augenblick schien seine Hand durchsichtig geworden zu sein, er konnte sie heben und sie glitt wie ein Schemen durch die eiserne Schelle um sein Handgelenk. Eine andere Hand schien dort zu bleiben, während er seine an die Wange hob und sich die Tränen abwischte. Es war angenehm kühl auf seiner Haut. Auch der Geruch war verschwunden, stattdessen duftete es tröstlich nach Holz und Firnis und ein wenig auch nach Eisen und Öl. Nach endlosen Augenblicken hatte er sich endlich in die Realität zurückgetastet. Es war nicht der Albtraum, der ihn geweckt hatte, es war ein Geräusch. Jemand hatte die Werkstatttür geöffnet und kam auf leisen Sohlen auf ihn zu. Im ersten Moment fühlte er endlose Erleichterung und bange Freude. Immer noch halb im Traum gefangen richtete er sich auf. »Jewgenij?«, flüsterte er.
    »Heißt er so?«,

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