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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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üblicherweise die auf Schandpfähle gespießten Köpfe der Gerichteten verdorren, befahl der Zar einen Richtplatz. In langen Kolonnen wurden die Strelizen an all diese Orte getrieben – mit brennenden Kerzen in den Händen, gefolgt von ihren weinenden Frauen und Kindern. Peter hat sogar seinen Hofstaat gezwungen bei den Hinrichtungen zu helfen. Ungeschickte Beamte schwangen das Henkersbeil und ich will dir nicht erzählen, wie schlecht manche von ihnen dieses Handwerk beherrschten, weil ihnen die Hände zitterten und sie schwach und elend vor Angst waren. Es war ein Schlachtfest der Rache. Mehr als tausend Strelizen hat er hinrichten lassen. Nur die Minderjährigen ließ er laufen, junge Kerle, die so alt waren wie du – aber er ließ es sich nicht nehmen, ihnen vorher die Nasen und Ohren abzuschneiden.«
    »Hör auf!«, rief Johannes. Die Übelkeit war so schlimm, dass er dachte, er müsse sofort hinausstürzen.
    »Es hört nie auf«, antwortete Onkel Michael.
    »Aber warum sind wir dann nicht in Moskau geblieben?«, ereiferte sich Johannes. »Du wärest freier und der Zar wäre weiter fort.«
    »Die Zukunft Russlands ist dort, wo der Zar ist«, sagte Michael bitter. »Der Zar hasst Moskau. Er will nicht in den Kremlpalästen leben, in diesen Labyrinthen dunkler Gänge und Gemächer, er erträgt nicht die monotonen Gesänge der Priester und hasst alle, die an den altrussischen Sitten festhalten. Nein, Moskau wird untergehen. In wenigen Jahren wird sich niemand mehr auch nur daran erinnern. Diese Stadt aber wird die neue Hauptstadt sein. Und es wird eine bessere Stadt sein. Es wird Schönheit geben. Und wenn ich noch an Schönheit glauben kann, will es was heißen. Ich habe lange nicht mehr daran geglaubt.« Seine Stimme wurde sanft und seine Falten glätteten sich. »Erst wieder in dem Augenblick, als ich Marfa traf.« Müde erhob er sich. »Nun, du wirst Arbeit haben als Schiffszimmermann. Das ist es doch, was du wolltest. Ich gratuliere dir zu deiner neuen Arbeit in der Werft.« Er wankte aus der Werkstatt. »Das Leben geht weiter«, hörte Johannes ihn murmeln. »Immer weiter.«
    * * *
    Lange saß Johannes wie betäubt da und starrte auf die Werkstatttür, die sich, so schien ihm, für immer zwischen ihm und seinem Onkel geschlossen hatte. Sund hatte Recht gehabt. Johannes war nicht mehr der gehorsame Lehrling, der seinen Weg in den Fußstapfen anderer suchte, er war neben den gut begangenen Pfad getreten. Und der Weg, der sich nun vor ihm auftat, war beängstigend und voller Geheimnisse. Schwerfällig erhob er sich und ging zum Haus hinüber. Schweigend sammelte er seine Habseligkeiten zusammen, warf sich die Decke über die Schulter und verließ das Wohnhaus. Seltsamerweise war er erleichtert, als er seinen Platz in Onkel Michaels Haus geräumt und sich in der Werkstatt einquartiert hatte. Sein Bett richtete er sich unter einer Werkbank ein, möglichst weit entfernt von den Pritschen der Gehilfen. Es würde sie stören, wenn der Neffe ihres Herrn in der Werkstatt war und ihnen den letzten Raum zur ungezwungenen Unterhaltung nahm, aber Johannes konnte es nicht ändern.
    Seine Knochen schmerzten, als er sich auf der Decke ausstreckte. Er schloss die Augen und dachte zum ersten Mal seit dem Besuch des Zaren in aller Ruhe nach. Eigentlich erschien es ihm so, als hätte er seit Wochen keinen klaren Gedanken gefasst, umso deutlicher formten sich nun Bilder, Eindrücke und wirbelnde Fragen vor seinem inneren Auge. Als Erstes erschien das Gesicht der Russalka vor ihm, dann Jewgenijs Lächeln. Jewgenij, sein Freund, der arme Fischer. Was ihn am meisten verwunderte, war das klamme Gefühl, das er verspürte, wenn er an die Arbeit in der Werft dachte. Noch vor wenigen Wochen hätte er beinahe seine Seele verkauft, um dort arbeiten zu können, und nun, da ihm dieser Weg freistand, zögerte er diesen Schritt zu tun. Es stimmte – es konnte gefährlich werden, in der Nähe des Zaren zu sein. Onkel Michaels Geschichte hatte ihn mehr verstört, als er zugeben wollte. Andererseits – es war der einzige Weg, alles zu bekommen, wovon er je geträumt hatte. Beinahe konnte er schon das Holz eines glatten Achterdecks unter seinen Füßen spüren, er hörte das Knarren von mächtigen Rahsegeln und seine Seele flog über einen tintenblauen Ozean einem neuen Leben entgegen. Türen würden sich öffnen – nicht zuletzt die von Christines Elternhaus. Johannes runzelte die Stirn. Allerdings hatte er die Sehnsucht nach Christine

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