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Der Kuss der Russalka

Der Kuss der Russalka

Titel: Der Kuss der Russalka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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Leibeigene schüttelte missbilligend den Kopf. »Du konntest Freund und Feind noch nie unterscheiden.«
    Es tat an vielen erstaunlichen Stellen weh, sich durch die Lücke zu schieben, aber nach wenigen Augenblicken hatte Johannes es geschafft – und stand knietief im Wasser. Was er im schreckensbleichen Morgenlicht vor sich sah, war ein völlig anderes Sankt Petersburg. Sturmregen ergoss sich auf eine ganz und gar überschwemmte Wasserstadt. Überflutungen hatte es schon viele gegeben, doch heute zogen rote Schlieren vom Horizont auf und legten sich wie ein blutiger Brautschleier über das Wasser. Menschen hasteten durch die Fluten, sprangen in Ruderboote und retteten sich auf Hausdächer. Obwohl jede Bewegung unerträglich schmerzte, watete Johannes so schnell er konnte in Richtung Newa.

Leben für Leben
    Der Sturmwind fegte vom Südwesten heran und zauste das Wasser. Die Newa hatte sich in einen kochenden See verwandelt. Lastkähne hatten sich losgerissen und trudelten umher. Irgendwo auf der anderen Seite der Newa stand der Zar in seinem hölzernen Domik sicher bis zu den Knien im Wasser. Und er ahnte nicht, dass die Newa nur darauf wartete, ihn endgültig zu verschlingen. Sie wartete auf den letzten Befehl von Karpakow. Angespannt hielt Johannes Ausschau. Treibendes Holz stieß gegen seine Kniekehlen und riss ihn beinahe um. Niemand kümmerte sich um den übel zugerichteten jungen Mann. Schreiende Menschen stürzten an ihm vorbei und stießen sich gegenseitig weg, um die rettenden Dächer zu erreichen.
    Aber es gab auch Menschen, die nicht in Panik waren. Mit einem Schaudern wurde Johannes klar, dass sie auf diesen Tag gewartet hatten. Hier sah er es – das Wasser der Newa teilte die Menge in Verräter und Ahnungslose. Fassungslos beobachtete er, wie Soldaten ihre Pferde wendeten und durch hoch aufspritzende Wellen zur Newa galoppierten. Aufseher, Grenadiere und Dragoner suchten grimmig ihren Weg. Er würde mit den Verrätern laufen – selbst auf die Gefahr hin, erkannt zu werden. Das war allerdings nicht sehr wahrscheinlich. Vermutlich hätte er sich im Moment selbst nicht wiedererkannt. So vorsichtig wie möglich entledigte er sich seines verkrusteten Hemds und watete gegen den Strom derer, die kopflos vor dem Wasser flohen, weg vom Fluss, in Richtung der Wälder, die ihnen Schutz bieten würden. Nach einer halben Meile bekam er vor Anstrengung kaum noch Luft, aber er wusste nun, wohin der Weg ihn führte: Nicht zu der Weide weit östlich außerhalb der Stadt, nein, er führte an das Südufer – gegenüber der Haseninsel. Regen schlug ihm ins Gesicht und sein linkes Ohr war taub vom stürmischen Wind, der den Fluss beinahe zum Stillstand brachte. Die Newa war ein bedrohlicher, beinahe schwarzer grundloser Schlund, der danach gierte, die Stadt zu verschlingen. Nur an den Hausdächern konnte man noch erahnen, wo Land und wo Fluss war.
    Schon von weitem erkannte Johannes Karpakow. Sein langer Mantel berührte die Fluten nicht, der Bojar stand auf einem hölzernen Podest, das in den vergangenen Tagen errichtet worden sein musste. Es war ein Lastkran mit mehreren Flaschenzügen, die üblicherweise von den Schauerleuten bedient wurden. Wie hölzerne Inseln lagen mehrere Kähne um das Podest herum vertäut. Fluchtinseln, wurde Johannes klar. Die kleinen Archen für die Erwählten, die die Zerstörung der Stadt überleben wollten. Er kämpfte sich immer weiter durch das Wasser, bis er stolperte und mit einem Mal beinahe in die Fluten gerissen wurde. Angestrengt hielt er Ausschau, aber es zeigte sich keine Russalka. Dafür erblickte er Derejew. Angst presste mit ihrer kalten Hand seine Kehle zusammen. Jelena – da war sie, an die Kette gelegt wie ein Tier. Karpakow hat die Perle tatsächlich, wurde Johannes klar. Der Wind drehte sich und trug die Fetzen der Worte zu ihm herüber.
    »Rufe sie!«, schrie Derejew Jelena an. Johannes konnte sehen, wie Jelena die Zähne zusammenbiss und trotzig den Kopf schüttelte. Sie war bleich wie die Russalka, aber Johannes konnte die Wut in ihren Augen sehen. In diesem Augenblick war er unendlich stolz auf sie. Karpakow hatte sich die Falsche ausgesucht. Derejew holte aus und schlug Jelena ins Gesicht.
    »Lass sie!«, brüllte Johannes. Ein Soldat wandte sich um, entdeckte ihn und hob sein Gewehr und legte an. Der Schuss peitschte durch die Luft. Johannes warf sich ins Wasser, tauchte unter und fühlte, wie die Strömung ihn fortzog. Als er wieder auftauchte, beobachtete er,

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