Der Kuss der Russalka
los!«, flehte Johannes gegen den Sturm. »Bitte, lass sie nicht los!« Aber die Russalka gehorchte nun dem Fluss, wurde eins mit dem Befehl, auf den sie viele Jahrhunderte gewartet hatte. Ein letztes Mal trafen sich ihre Blicke und Johannes sah in das Gesicht des Todes. Schwarz und grausam waren die Augen des Wesens, das sich nun über Jelena beugte, sie küsste und losließ. Jelenas Gesicht versank wie eine Blüte, die ein Fisch unter Wasser zieht.
»Nein!«, schrie Johannes, dann warf er sich wie besessen in das Wasser und schwamm, bis seine Arme taub waren. Fluten warfen ihn herum, aber es war ihm gleichgültig, ob er ertrinken würde. Aus dem Augenwinkel sah er eine gewaltige Flutwelle, die sich am Horizont auftürmte, er fühlte den Sog gewaltiger als einen Orkan und wusste, dass er und alle anderen in dieser Stadt verloren waren. Er tauchte und bekam einen Arm zu fassen, in den die Fesseln tief einschnitten, aber der Sog entriss ihm seine Beute, ließ ihn trudeln, drückte ihm Wasser in die Lunge und wirbelte ihn herum, bis sein ganzer Mund voll sandigem Newaschlamm war. Hass wallte in ihm auf. Ein Gesicht erschien neben ihm, älter als die anderen, schrecklicher, ein Seeungeheuer, von dem er dachte, es würde ihn verschlingen. Schuppen rieben an seiner Kehle, das Flusswesen drückte ihn gegen etwas Hartes. Reflexartig griff Johannes zu. Es war der Lastkahn. Wie ein Korken trieb er auf dem Wasser, gehalten und gehütet von Russalkas. Auf den Knien lag Karpakow darauf. Er und Derejew duckten sich vor den Schüssen, die die Soldaten am Ufer in Panik abfeuerten. Die gewaltige Woge walzte heran. In wenigen Augenblicken würde die Stadt vernichtet werden. Zurückbleiben würden die Reste einer Sandburg, die eine gewaltige Welle zerstört hatte, und die Tränen eines enttäuschten Kindes.
Johannes war blind vor Schmerz; alles, was er sah, war Karpakow. Alle Predigten, die er in seinem Leben gehört hatte, fielen ihm ein. Aber er dachte gar nicht daran, zu verzeihen, er wollte die Rache nicht dem Himmel überlassen. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Karpakow. Der alte Bojar fuhr herum. Aus seiner Kehle kam ein erstickter Schrei, dann lagen schon Johannes’ Hände um seinen Hals. Er drückte zu, bis das bärtige Gesicht rot anlief und die Augen aus den Höhlen quollen. Es erstaunte ihn beinahe, dass es noch eine andere Welt außerhalb dieses Hasses gab, eine nasse Welt, starke glatte Arme, schnappende Zähne. Es war die Russalka. Seine Russalka. Aber nun waren ihre Augen ganz und gar schwarz, Zähne glänzten im Sturm. Sie fauchte ihn an und er erkannte, dass sie ihn töten würde. Mit einer schlängelnden Bewegung bog sie seine Hände auf. Wasser kroch ihm unter die Arme, riss ihn hoch und schleuderte ihn fort. Während die Wellen ihn herumwarfen, sah Johannes, wie sich Karpakow, den die Russalka gerettet hatte, keuchend an die Kehle griff und hustete.
* * *
Ob er tot war, konnte er nicht sagen, aber für die Hölle war es eindeutig zu nass. Außer dem Schmerz in seiner Schulter spürte er kleine Wellen, die wie übermütige Welpen an seinen Unterschenkeln leckten. Da war Strömung, aber er lag auf etwas, das hart und kalt war. Vorsichtig öffnete er ein Auge. Der Horizont war immer noch da. Die Russalka hat Karpakow gerettet, dachte er. Und der nächste Gedanke, der ihm ein glühendes Eisen in die Brust stieß: Und Jelena hat sie ertrinken lassen. Bitter schmeckte die Luft, die zu atmen er verdammt war. Es tat weh, den Kopf zu heben.
Er hatte gedacht, dass nichts ihn überraschen könnte. Nun, wie gründlich hatte er sich geirrt! Er trieb auf einem großen Stück Treibholz – es mochte der Unterbau eines Lastkahns gewesen sein. Seine Beine hingen halb im Wasser, das ungewöhnlich kalt war. Der Horizont erstreckte sich vor ihm wie ein silbernes Tuch, rechts von ihm trieben Sandbänke vorbei. Er musste weit hinter Fürst Menschikows Insel sein, vor sich den Finnischen Meerbusen, rechts, in Sichtweite, die Festung Kronstadt im Meer. Da war keine Flutwelle mehr. Er sah nur silberne Ruhe und die Klarheit eines diamantenen Himmels nach dem Sturm. Sankt Petersburg war verschwunden, aber im Moment war es Johannes auf seltsame Weise gleichgültig. Jeder Wellenschlag brachte ihm die Erinnerung an ein schmales blasses Gesicht, das ihm unwiderruflich und für immer entglitten war. Er hätte jede Stadt der Welt eingetauscht, um noch einmal Jelenas Stimme zu hören.
»Ein Leben für ein Leben«, sagte eine leise
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