Der Kuss der Russalka
Michael? Mitja, haben sie ihn?«
Mitja grinste schief. Wieder einmal staunte Johannes, wie verständig der Narr sein konnte, wenn er nur wollte. »Die Glocke schlägt, aber ihr Klang trägt noch die Luft«, antwortete er.
Johannes sprang auf. »Sie sind auf dem Weg zur Werkstatt. Ich muss ihn warnen!«
Jelena sah ihn zweifelnd an. Regen lief über ihr Gesicht. Sie wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. »Ich komme mit.«
Fackeln brannten in der Septembernacht, die Nachtschicht arbeitete in den Wäldern. Geschickt umrundeten die drei alle Plätze, an denen Holz geschlagen wurde, und gelangten in die unmittelbare Nähe der Stadt. Mitja schien zu wissen, was von ihm erwartet wurde, denn als einer der Posten am Stadtrand in Sicht kam, riss er sich einfach von Johannes los und floh. Einen Augenblick wusste Johannes nicht, was der Narr vorhatte, aber dann hatte Mitja schon den Posten erreicht, fuchtelte aufgeregt mit den Armen und zerrte den Mann weg. Der Posten rief ein paar Soldaten und sie gingen in die Richtung, in die Mitja zeigte, als hätte er dort etwas Ungewöhnliches entdeckt. Genug Zeit für Jelena und Johannes, ungesehen Zar Peters neue Stadt zu betreten. Einige Augenblicke warteten sie auf Mitja, aber der Narr hatte sich offensichtlich davongemacht und lenkte die Soldaten ab.
Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert. Die Bauarbeiten im Sumpf waren weiter fortgeschritten, mehr Erde war aufgeschüttet worden, einige Gebäude waren ein Stück gewachsen. Johannes musste sich klar machen, dass sie nicht Monate weg gewesen waren, sondern nur wenige Tage, obwohl ihm die Zeit länger vorkam als die ganze Reise von Magdeburg nach Moskau. Im Bogen schlichen sie sich zur Werkstatt. Erleichtert atmete Johannes auf. In dem Gebäude brannte Licht. Wie immer, wenn er besonders schlecht geschlafen hatte, war Michael aufgestanden und bereitete die Tagesarbeiten vor.
Jelena blickte sich um. »Ich warte hier«, sagte sie leise. »Wenn etwas ist, dann rufe!«
»Danke, Jelena!«
Sie schluckte sichtlich, als sie ihren Namen hörte, aber sie nickte nur knapp und versetzte ihm einen unsanften Stoß in die Rippen. »Geh schon!«, zischte sie ihm zu. »Verschwende nicht noch mehr Zeit!«
Er stand auf und lief zwischen den Häusern hindurch. Der Platz war frei, die Leibeigenen hatten sich vor dem Regen in ihre baufälligen Unterkünfte verkrochen oder sich unter überhängenden Dächern windgeschützte Stellen gesucht. Tröstlich und vertraut fühlte sich die hölzerne Klinke der Werkstatttür an, die Johannes herunterdrückte. Er atmete tief durch und trat leise ein. Holzduft schlug ihm entgegen und eine trockene Wärme, die ihm nach den vielen Tagen im Regen gut tat. Er war überrascht zwei Leute zu sehen, die an der Werkbank saßen. Zwischen sich hatten sie eine Kerze. Er waren nicht Michael und Marfa. Es waren ein Soldat und Mitja.
»Endlich«, sagte eine wohl bekannte Stimme. Schatten erhoben sich in der Dunkelheit der Werkstattwinkel und traten ans Licht. Derejews Augen blitzten spöttisch auf. »Nehmt ihn fest.«
»Derejew!«, brüllte Johannes, so laut er konnte. Er schnellte los, aber es war zu spät. Ehe er den Soldaten, der vor der Werkbank aufsprang, mit einem Fausthieb niederstrecken konnte, traf ihn von hinten ein harter Gegenstand am Kopf. Wie ein verhallendes Echo hörte er Mitjas Schrei und sah, wie der Narr aus der Werkstatt floh, dann taumelte die Wirklichkeit davon.
Als sie wieder herankroch, verwandelte sie sich erst einmal in den Geschmack von Blut und das Gefühl von Schmerz. Wasser rann ihm in den Kragen und das Hemd klebte an seinem Körper. Mühsam blinzelte er und fragte sich, ob er Mitjas Gegenwart nur geträumt hatte. Nun war er allein in der Werkstatt – allein mit Derejew. Nein, halt, da waren noch zwei Soldaten – rechts und links standen sie neben ihm und hielten ihn mit grobem Griff aufrecht.
Derejews Augen waren hartes, glänzendes Glas. »Du wolltest den Fischerjungen warnen, nicht wahr?«, meinte er nun mit einem ironischen Lächeln. »Vergebliche Mühe, mein Freund. Er war es, der dich zu uns geführt hat.«
»Du lügst!«, schrie Johannes ihn an. »Lass mich los, du feiges Schwein!«
»Langsam, Johannes«, sagte Derejew. Er betonte den Namen mit so viel Verachtung, dass Johannes glaubte wahnsinnig zu werden. »Du bist ein Mörder, weißt du?«, fuhr der Oberst in aller Ruhe fort. »Wir haben Zeugen.«
»Lasst mich los und ihr erlebt einen Mörder!«, zischte
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