Der Kuss der Sirene
zu.
»Ach, komm schon Cole, du weiÃt doch, dass sie mit niemandem spricht.« Sie starrt mich direkt an. »Nicht mal mit ihrer früheren besten Freundin.«
Cole hebt eine Augenbraue. »Komisch, mit mir hat sie vor ein paar Minuten geredet.«
Verteidigt er mich etwa? Warum sollte er das tun? Er lächelt und bekommt dabei Grübchen. Ein stechender Schmerz in der Magengegend erinnert mich daran, dass ich eigentlich wütend auf ihn sein sollte.
»Tja, Wunder geschehen.« Sienna zuckt die zierlichen Schultern, das blonde Haar fällt ihr über den Rücken. Sie beginnt, in einer ihrer zahlreichen Luxushandtaschen zu kramen. Heute ist es eine grüne, die zu dem Top unter ihrer weiÃen Strickjacke passt. Bei Sienna muss immer alles perfekt aufeinander abgestimmt sein. Wahrscheinlich war ich früher auch so.
»Hast du ein Geschwür oder so was? Dein Gesicht sieht ganz verquollen aus. Das ist wirklich nicht schön«, sagt Sienna. Sie wirft den Kopf zur Seite und ihr glänzendes, platinblondes Haar ist voller Sprungkraft und Fülle, als würde sie für ein Haarfärbemittel modeln.
»Ich â¦Â«, beginne ich und klappe meinen Mund wieder zu. Es kommt sowieso nichts Gutes dabei heraus, wenn ich mit meiner früheren besten Freundin rede. Abgesehen davon bin ich schon längst ersetzt worden. Durch Nicki und Kristi und Siennas Freund Patrick.
Mrs Jensen räuspert sich. Schnell richte ich meine ganze Aufmerksamkeit nach vorn.
»Nun, ich weiÃ, dass euch schon seit fünf Stunden Regeln, Anforderungen und Lehrpläne eingetrichtert wurden, aber wir müssen das Ganze trotzdem durchgehen.«
Ich knirsche mit den Zähnen. Ich hätte zu Hause bleiben sollen.
Mrs Jensen verteilt die Lehrpläne. Ich nehme die letzte Kopie und halte sie für Sienna über die Schulter, ohne mich zu ihr umzudrehen. Als sie das Blatt nicht sofort nimmt, wedele ich damit so nervig wie möglich herum. SchlieÃlich reiÃt sie es mir aus der Hand und meckert leise irgendwas vor sich hin.
Mrs Jensen beginnt ganz oben. »In diesem Jahr werden wir mindestens drei klassische Werke und drei Bücher eurer Wahl behandeln â¦Â«
Ich seufze innerlich. Hinter mir lehnt sich Sienna nach vorn zu Cole, doch das führt nur dazu, dass auch ich sie gut hören kann. »Also, kommst du zu meiner Party?«, fragt sie Cole leise.
Ich sehe mich im Klassenzimmer um. Gibt es denn keinen anderen Platz für mich? Muss ich mir das wirklich antun? Alles mit anhören, was ich so sehr vermisse? Vor zwei Jahren hätte sie mich gefragt, ob ich käme. Ich hätte gewusst, dass sie in diesem Kurs ist, denn wir hätten unsere Stundenpläne gleich um sieben Uhr früh verglichen.
Ich lasse meinen Blick durch den Raum und über die immer gleichen Gesichter schweifen, doch dann bleibt er am Tisch in der hintersten Ecke hängen. Dort sitzt ein neuer Typ. Er ist groà und blond und sehr durchtrainiert. Ich frage mich, ob auch er schon die Gerüchte über mich gehört hat. Bis spätestens Mittag wird ihm jemand geraten haben, sich von mir fernzuhalten.
Er dreht sich plötzlich um und erwischt mich dabei, wie ich ihn anstarre. Ich sehe schnell weg und fühle eine vertraute Wärme in meine Wangen steigen. Ich krame einen blauen Füller aus meiner Heftmappe und tue so, als würde ich mir Notizen zu Mrs Jensens Redefluss machen. Sie läuft dabei auf und ab. Ein feiner SchweiÃfilm glänzt auf ihrer Stirn. Ich habe nie zuvor von ihr gehört. Sie muss neu sein. Wahrscheinlich kommt sie frisch vom College. Sie sieht aus, als hätte sie gerade ihren Abschluss gemacht und wäre völlig aus dem Häuschen, weil sie uns jetzt unterrichten darf.
Ich male kleine verschnörkelte Linien auf das orangefarbene Papier. Sie sehen aus wie Wellen. Wie das Meer bei Sonnenuntergang â dunkles Blau und Rostrot vermischen sich miteinander.
Zumindest entspricht das meiner Erinnerung. Ich habe das Meer seit der Nacht, in der Steven starb, nicht mehr bei Sonnenuntergang gesehen.
»Klar, komm ich. Kann es kaum erwarten«, sagt Cole.
Ich rutsche mit dem Stuhl ein wenig zur Seite und versuche nicht hinzuhören. Doch fünf Zentimeter reichen längst nicht aus. Weiter kann ich aber nicht nach auÃen rutschen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Und ich will die neue Lehrerin nicht unnötig auf mich aufmerksam machen.
»Alle werden da
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