Der Kuss der Sirene
mehr am Baum. Ich senke die Stimme. »Sienna, bist du selbst gefahren?« Ich spreche jedes Wort langsam und deutlich aus, aber so leise, dass Erik es nicht hören kann.
Sienna nickt. Gott sei Dank!
»Lauf weg, bitte! Vertrau mir nur einmal und lauf! Morgen werde ich dir alles erklären. Das schwör ich dir! Auch die Wahrheit über Steven. Aber jetzt musst du hier verschwinden.«
Erik hat offenbar gemerkt, was ich vorhabe, und wirft mir einen finsteren Blick zu. Er hat nicht damit gerechnet, dass Sienna einen eigenen Willen hat.
Ich schaue Sienna in die Augen. Sie ähneln Stevens Augen so sehr, dass sich mein Herz zusammenzieht. Und wirklich: Sie dreht sich um und rennt los. Ihr blondes Haar flattert, sie springt über einen Baumstumpf und wird immer schneller, während sie auf dem Weg unter ihrem Gewicht einsinkt. Ich bin erleichtert und überrascht, dass Erik sie laufen lässt.
»Hau ab!«, rufe ich ihm zu. »Egal was du vorhast: So wirst du nie bekommen, was du willst.«
»Du weiÃt doch gar nicht, was ich in Wahrheit will.« Er sagt das mit einer solchen Zufriedenheit, dass ich Gänsehaut bekomme. Er sieht aus wie eine Katze, die einen Kanarienvogel gefangen hat.
Ich beiÃe die Zähne zusammen. »Du kannst mich nicht zwingen. Ich soll dir für immer gehören, aber ich kann dir nicht einmal einen einzigen Tag schenken. Lass mich einfach gehen. Lass ihn gehen.«
Er lacht nur. »Du hast es immer noch nicht kapiert, oder? Ich will dich nicht für immer«, sagt er und schubst Cole. »Ich wollte mich nie in dich verlieben. Zwar kann Liebe dich tatsächlich von deinem Fluch erlösen. Aber das ist mir völlig egal.«
Er hält inne, betrachtet mein Gesicht und grinst noch selbstgefälliger. »Eins musst du wissen: Ja, ich bin ein Nix. Aber das ist keineswegs ein Fluch. Mir gefällt mein Leben sogar. Denn ich kann Menschen manipulieren. Ich kann sie sogar ertränken, wenn mir danach ist. Und das kommt gar nicht selten vor.«
Coles Augen weiten sich, jetzt wird ihm klar, in welcher Gefahr er schwebt. Keiner von uns beiden hätte je geglaubt, dass Erik zu so etwas fähig wäre. Die plötzliche Erkenntnis trifft mich wie ein Schock.
»Ist irgendeine deiner Geschichten wahr? Ist deine Mum überhaupt eine Sirene?«
Er schüttelt den Kopf. Seine arrogante Fratze sagt nur zu deutlich, dass er sich für den Herrn des Universums hält. Er versetzt Cole mit der Hand einen so heftigen StoÃ, dass dieser erst auf die Knie und dann auf den Bauch fällt. Weil er gefesselt ist, kann er sich nicht mit den Händen abstützen.
Ich zittere. Gleichzeitig zögere ich, mich einfach auf Erik zu stürzen. Vielleicht gibt es noch einen besseren Ausweg.
Da wendet er sich mir erneut zu. »Die anderen Sirenen haben mir mehr Kopfzerbrechen gemacht. Aber bei dir hatte ich leichtes Spiel. Deine Schuldgefühle wegen Steven haben dich ziemlich anfällig gemacht. Ich brauchte dir nur eine rosige Zukunft auszumalen â und schon hatte ich dich.«
Ich bin wie gelähmt. Jeder Muskel in mir scheint zu erschlaffen, mein Körper streckt die Waffen. Das Wasser des Sees umspielt noch immer meine Knöchel. In Eriks Gesicht tritt ein Zug von Besessenheit.
»An dieser Stelle müsstest du eigentlich fragen: Warum? Warum ausgerechnet ich? Warum eine Sirene?« Er macht eine kurze Pause. »Menschen umzubringen, macht auf die Dauer einfach keinen SpaÃ. Es ist viel zu leicht. Mein hübsches Gesicht genügt und sie fallen auf alles herein. Sie gehen sogar freiwillig in den Fluss, ich muss nur dabeistehen und lächeln. Wenn du einen Menschen töten kannst, kannst du auch tausend töten. Und in vierhundert Jahren habe ich mindestens tausend umgebracht.«
Vierhundert Jahre .
Er hat gesagt, er wird bald achtzehn. Und in diesem Augenblick wird mir alles klar: Nicht seine Vorfahren haben all die Frauen betrogen. Das war immer nur er. Er vererbt seinen Fluch nicht. Er ist verflucht und unsterblich. Und er ist ein Psychopath. Ein totaler Psychopath.
»Erinnerst du dich an Kate?«
Ich schlucke. Soll ich so tun, als würde ich mitspielen? »Das war doch das Mädchen, von dem du mir auf dem Ball erzählt hast. Du warst verliebt in sie.«
Er nickt. »Eines Nachts bin ich ganz zufällig auf Kate gestoÃen. Das war vor einhundertfünfzig Jahren.«
Die Geschichte vom Nix, der eine Sirene
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