Der Kuss der Sirene
zurückgehalten habe, sprudeln jetzt einfach aus mir heraus. »Es ging auf Mitternacht zu. Steven wollte mit mir auf die Sonnenterrasse. Dort konnte ich ihn kaum verstehen, so laut rauschte das Meer in meinen Ohren. Ich fühlte den unerbittlichen Drang, schwimmen zu gehen. Also habe ich ihn gefragt, ob er mit mir zum Strand kommt.«
Obwohl es so dunkel ist, bilde ich mir ein, dass Coles Miene erstarrt. Ich schlucke. »Auf dem Weg zum Strand wurde mir schwindelig. Es war wie ein AdrenalinstoÃ, nur tausendmal stärker. Wir zogen uns aus und sprangen ins Wasser. Sofort schwamm ich von ihm weg und habe angefangen ⦠zu singen. Ich wuÃte nicht mal, was ich da sang. Und dann kann ich mich nur noch daran erinnern, dass es auf einmal ganz still war und ich Steven nicht mehr sah. Ich drehte um und schwamm wieder in Richtung Strand. Dabei fand ich ihn. Er trieb mit dem Gesicht nach unten auf den Wellen.«
Cole scheint all dies in Zeitlupe zu verarbeiten. Seine hellen Augen wirken im fahlen Mondlicht ganz dunkel. »Du darfst dir nicht die Schuld geben. Er selbst hat beschlossen, nachts ins Wasser zu gehen. Ich habe die Polizeiberichte gelesen.«
»Doch, es ist meine Schuld.«
Ich glaube, Angst in Coles Augen zu sehen.
»Es war keine Absicht. Und das ist die Wahrheit. Ich wusste nicht, was ich tat, als ich sang. Ich wusste nicht einmal, was ich da sang. Doch jetzt weià ich, was ich bin. WeiÃ, warum ich unbedingt ins Wasser wollte. Ich habe Steven in den Tod gelockt. Ich bin eine Sirene.«
Nach diesen Worten erstarrt er. Sekunden, Minuten beginnen sich zu dehnen. In seinem Kopf scheint es fieberhaft zu arbeiten. SchlieÃlich sagt er: »Vor zwei Tagen bin ich hierhergewandert, das weià ich noch. Und dass ich plötzlich keine Luft mehr bekam und Wasser ausgehustet habe. Alles dazwischen ist weg. Als hätte ich einen Blackout gehabt.«
»Ich musste ⦠dich aus dem See ziehen und wiederbeleben.«
»Du hast mich gerettet?«
»Hörst du nicht zu? Ich hätte dich fast ertränkt!«
Auf dem Wald lastet eine bleierne Stille, weder Grillen noch Vögel sind zu hören. Cole hat mein Geständnis entgegengenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wenn er doch toben oder wegrennen würde! Dann wüsste ich wenigstens, was er jetzt denkt.
»Ich verstehe immer noch nicht. Was hat mich nur dazu getrieben, ins Wasser zu gehen?«
»Am besten ich zeige es dir.« Ich atme tief ein. »Nimm deinen MP 3-Player.«
Er fischt den roten Player aus seiner Hosentasche.
Das ist mein Notfallplan. »Dreh die Lautstärke so hoch wie möglich! Nimm irgendwas Schnelles.«
Er tut, was ich sage. Gleich darauf dröhnen die Bässe aus den Kopfhörern.
»Gib mir deinen Gürtel!«
Mit einem skeptischen Blick zieht er seinen Gürtel aus den Hosenschlaufen. Ich nehme ihm den Gürtel ab und führe ihn zu der groÃen Zeder hinter uns.
»Vertraust du mir?«, frage ich.
Er nickt. Ich kann kaum glauben, dass ihm das gelingt, nach allem, was ich ihm angetan habe.
»Steck die Kopfhörer rein!«
Er gehorcht, zuckt aber bei der höllischen Lautstärke zusammen. Er will die Musik leiser stellen, doch ich lege meine Hand auf seine und schüttele den Kopf. Er steckt das Gerät zurück in die Tasche.
Ich nehme den Gürtel und fessele ihn mit den Händen nach hinten an den Baum. Ich komme zu ihm vor und blicke ihm tief die Augen. Natürlich will er Erklärungen, ich will etwas sagen, doch da fällt mir ein, dass er mich sowieso nicht hören kann.
Das ist der Moment, der mein Leben verändern wird. Ich möchte meine Augen schlieÃen und mir etwas wünschen, doch stattdessen beuge ich mich vor und drücke meine Lippen auf seine. Vielleicht ist es das letzte Mal. Er beugt sich zu mir, die Gürtelfessel spannt sich. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände. Unser Kuss dauert länger, als er sollte.
Dann trete ich zurück und knöpfe meine nasse Jeans auf. Als ich sie an meinen Beinen hinabgleiten lasse, wandern seine Augen mit einem flackernden Blick abwärts. Danach schlüpfe ich aus meinem Pullover.
»Lexi â¦Â«, beginnt er. Er merkt nicht, wie laut er spricht, weil die Musik in seinen Ohren dröhnt.
Ich lege mahnend einen Finger an die Lippen. Hoffentlich merkt er nicht, wie nervös es mich macht, fast nackt vor ihm zu stehen. Aber ich habe keine Wahl. Sein Blick
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