Der Kuss der Sirene
umfasst er meine Wange.
»Aber wieso, Lexi? Wieso bist du dann mit ihm zusammen?«
Ich öffne den Mund, bleibe aber stumm. Ein weiterer Blitz entlädt sich, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Genau in diesem Moment fälle ich eine Entscheidung. Eine, die mir endlich Gewissheit geben wird. »Ich kann es dir nicht erklären. Aber ich kann es dir zeigen«, schreie ich ihm ins Ohr. »Hol deinen MP 3-Player.«
Wir sitzen zitternd in meinem Wagen, den ich in der Nähe des Sees geparkt habe. Cole bibbert vor Kälte und ich ⦠vor Angst.
Meine Mutter hat einst dasselbe getan. Sie hat Dad ihre wahre Natur offenbart und er lief davon. All die Jahre habe ich mich ihr fremd gefühlt. Jetzt verstehe ich sie, denn auch in mir brennt diese wahnsinnige Hoffnung. Kopf und Herz stehen gegeneinander und ich folge meinem Herzen. Ich spiele mit dem Feuer. Wenn ich auffliege, werde ich mehr leiden als meine Mutter. Aber ich kann nur mit Cole zusammen sein, wenn er die Wahrheit kennt. Meine Lügen haben ihn beinahe umgebracht.
»Bist du bereit?«, frage ich fast im Flüsterton. Der Regen drauÃen hat nachgelassen, nur ein paar Tropfen hängen noch an der Scheibe. Cole hat sich eine Jacke übergezogen, aber ich habe mir nicht die Mühe gemacht, meinen feuchten Pullover und die Jeans zu wechseln. Meine durchweichten Turnschuhe scheuern an den Kanten.
Cole starrt mich in der Dunkelheit an. »Warum sind wir hier?«
»Das wirst du schon noch sehen. Komm mit!« Ich öffne die Wagentür und auf einmal kommt mir ihr Quietschen wie das Läuten einer Totenglocke vor.
Der Mond kommt zwischen den aufgerissenen Wolken hervor und weist uns den Weg. Seltsam, wie schnell ein Gewitter so nah am Meer vorbeizieht.
Cole stolpert über eine Wurzel und stöÃt gegen mich, offenbar ist ihm dieser Pfad nicht so vertraut wie mir. Er muss letzte Nacht eine Taschenlampe dabeigehabt haben. Als er wieder aus dem Tritt kommt, nehme ich ihn an die Hand und führe ihn. Das Blätterdach ist nun so dicht, dass kaum Mondlicht hindurchdringt.
»Warte!«, sagt er und hält mich zurück. »Hier war ich schon einmal â¦Â«
»Ich weië, sage ich und ziehe ihn weiter. Wenn ich innehalte, ändere ich womöglich noch meine Meinung.
Seine Hand liegt warm in meiner und ich möchte mich am liebsten umdrehen, ihn an einen Baum drücken und küssen. Doch ich zwinge mich dazu, weiterzulaufen und das Pochen in meinen Adern zu ignorieren.
Wir treten auf die Lichtung, vor uns glitzert der See im Mondlicht.
»Ich war hier. Vor zwei Nächten â¦Â«, sagt Cole etwas eingeschüchtert. »Es war so seltsam, ich â¦Â«
»Genau darüber will ich mit dir reden. Ich habe dich vor ein paar Wochen zum ersten Mal an diesem See gesehen. Warum bist du hergekommen?«
»Ich komme oft hier rauf. Nicht speziell an diesen See, aber in den Wald. Einfach, um ein bisschen abzuschalten. Damals war ich schon auf dem Heimweg, aber es war so schön friedlich hier. Warum hast du dich nicht â¦Â«
»Ich wollte nicht, dass du wiederkommst. Das ist mein See. Aber das verstehst du nicht.«
»Der See gehört doch zum Landesforstgebiet. Eine meiner Lieblingsrouten ist etwas weiter die KiesstraÃe runter. Aber dieser See ist nicht in den Karten verzeichnet.«
»Deshalb gehört er mir.«
Cole sieht aus, als wollte er etwas erwidern, doch dann hält er inne und blickt aufs Wasser hinaus. Ich führe ihn zu dem Baum, von dem aus ich ihn in jener Nacht beobachtet habe. Es ist, als erlebte ich alles noch einmal: wie ich meine Nägel schmerzhaft in die Rinde grabe, wie mein Blut vor Wut kocht.
Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich mich in ihn verlieben würde, hätte ich uns beiden das Leid ersparen können. Doch jetzt bin ich gezwungen, etwas Unerhörtes zu tun.
Wahrscheinlich ist es meine Sirenennatur, die mich zu all dem treibt. Geliebt zu werden, ist unsere gröÃte Sehnsucht. Und doch sind wir Sirenen auÃerstande, diese Liebe am Leben zu halten, wenn wir sie einmal gefunden haben. Aber ich kann und will nicht glauben, dass das auch für Cole und mich gilt. Jemanden wie ihn gibt es nur einmal. Ich brauche ihn. Ich will ihn.
Ich liebe ihn.
»Möchtest du wissen, was wirklich mit Steven passiert ist?« Ich weiche seinem forschenden Blick nicht aus. SchlieÃlich nickt er. Jene Worte, die ich so lange
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