Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
während ihr ängstlicher Blick auf Kafziels gewaltigen Umriss gerichtet war, der Rafe unter sich zermalmte.
Etwas Glitzerndes sprühte plötzlich empor. Das Ungetüm brüllte auf, schlug mit den Flügeln, sodass Sophie gegen den Wind anblinzeln musste. Zurücktaumelnd fegte der Dämon selbst die steinerne Bank zur Seite, die knirschend über die Fliesen schabte.
Wieder ein Blitz. Rafe stand vor seinem Gegner. Eine Schwinge hing gebrochen herab, lose Federn segelten zu Boden. Seine Haut war von zahllosen Schnitten übersät. In der Hand hielt er die geöffnete Flasche. Das Licht erlosch, der Donner fuhr wie ein Hammer nieder. Wasser prasselte außen wie innen.
»Fahr zur Hölle, Dämon!«
»Sei verflucht, Gadreel!«, zischte das Ungeheuer.
Oder war es nicht seine Stimme, die zischte? Sophie konnte es nicht unterscheiden, doch es war ihr gleich. Es zählte nur, dass Kafziels Gestalt schrumpfte, verblasste, bis sie sich völlig in die Dunkelheit aufgelöst hatte.
Rafe brach in die Knie, schüttelte wie benommen den Kopf. Auch er schien ein wenig zu schrumpfen, kehrte auf ein menschliches Maß zurück. Die grauen Schwingen zerfielen zu Staub. Schon begannen sich die Wunden zu schließen. Die bleiche Haut näherte sich Sophies dunklerer Farbe an.
Sie sah es kaum noch. Ihre Lider waren so schwer geworden, so schwer. Hatte sie nicht eben noch eine Wand in ihrem Rücken gehabt? Die musste irgendwie verschwunden sein. Sie schwebte wie in Watte gepackt. Der Dämon war fort. Alles war gut.
»Ja«, drang Rafes Stimme an ihr Ohr. »Es wird alles gut.«
G ibt es noch jemanden, den ich informieren soll?«, erkundigte sich Madame Guimard. Schick gekleidet und makellos frisiert wie stets saß sie am Krankenhausbett, doch das Make-up wirkte an diesem Morgen wie ein Fremdkörper in ihrem Gesicht. Die Sorgen der vergangenen Nacht hatten die Falten tiefer in ihre Miene gegraben. Der Lippenstift stach zu grell von ihrer Blässe ab, der Puder war nicht in alle Furchen der runzligen Haut vorgedrungen. Es tat Sophie leid, dass sie der alten Frau solche Aufregung zugemutet hatte. Wie hätte sie erst ausgesehen, wenn ich gestorben wäre!
»Dieser junge Mann vielleicht, der mich gestern angerufen hat? Jean Méric. Er klang sehr besorgt«, betonte Madame Guimard.
»Nein, nicht nötig. Ich werde ihn selbst anrufen.« Es genügt schon, dass Sie meine Eltern rebellisch gemacht haben. Sophie rang sich ein dankbares Lächeln ab, obwohl sie inständig hoffte, dass ihre Eltern nicht auf dem Weg nach Paris waren. Es ging ihr gut. Sie schwebte nicht mehr in Lebensgefahr. In ein paar Tagen würde sie nur noch der Verband um ihr Handgelenk daran erinnern, dass ein Dämon eine ihrer Adern durchtrennt hatte.
Die Blumen, die Madame Guimard mitgebracht hatte, erfüllten mit ihrem Duft allmählich den karg eingerichteten Raum. Das Mädchen, das die Nacht hier verbracht hatte, war erst vor zehn Minuten entlassen und von seiner Familie abgeholt worden, doch die Krankenschwester hatte schon angekündigt, dass Sophie nicht lange im Genuss eines Einzelzimmers bleiben würde.
»Kann ich sonst noch etwas tun, chérie? Unterwäsche und Nachthemden habe ich dir mitgebracht. Deine Zahnbürste und das alles liegt im Bad, aber vielleicht brauchst du etwas zum Lesen. Soll ich irgendein Buch kaufen? Eine Zeitschrift? Ich komme heute Nachmittag wieder und kann es mitbringen.«
»Danke, Madame Guimard, das ist wirklich lieb von Ihnen, aber Sie müssen sich keine Umstände machen. Nehmen Sie doch einfach das Buch von meinem Nachttisch. Dann komme ich endlich dazu, es zu lesen.«
Sie erschrak, als das Telefon auf der Ablage neben dem Bett klingelte. Meine Nerven liegen wohl doch noch blank.
»Das sind sicher deine Eltern, da will ich nicht länger stören.« Madame Guimard drückte ihr rasch die Finger der linken Hand, in der weiter oben eine Infusionsnadel steckte. »Bis später, chérie!«
»Danke für alles!«, rief Sophie ihr nach, während sie zum Hörer griff. Sie wappnete sich für die Flut besorgter Fragen und Vorwürfe, die ihre Mutter über sie ausgießen würde. »Ja, hallo?«
»Sophie? Hier ist Jean. Geht es dir gut?«
»Jean!«, rief sie vor Erleichterung aus. »Ja, ja, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde und schwach auf den Beinen, aber ich bekomme Bluttransfusionen und solches Zeug, um den Verlust auszugleichen.« Hatte er sie in diese Klinik gebracht? Woher sollte er sonst wissen, dass sie hier war? Sie konnte sich nur
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