Der Kuss des Engels: Roman (German Edition)
die Füße wegzuziehen drohte. In der Mitte strauchelte er immer wieder über einzelne Steine, die hervorragten. Das Mausoleum der Caradecs lag am anderen Ende des Friedhofs, doch sie mussten jeden Augenblick dort sein.
Der Sturm wirbelte Sand und trockenes Laub auf, riss verdorrte Äste und Zweige aus den Baumkronen herab. Jean blinzelte gegen den Wind an. Dort! Schwacher Kerzenschein hinter kleinen Kirchenfenstern. Er wollte Sophies Namen rufen, doch die Böen raubten ihm den wenigen verbliebenen Atem.
Hellgraues Gestein schälte sich aus der Finsternis. Rundbögen und aufwendige Ornamente gaben dem Bauwerk das Gepräge einer mittelalterlichen Kapelle, doch das Portal wurde von Statuen flankiert, die antiken Göttern ähnelten. Das schmiedeeiserne Tor, das für gewöhnlich die Stufen zum Eingang versperrte, stand offen. Jean eilte hinauf, doch Gadreel war schneller, berührte die mit verwitterten Bronzebeschlägen verzierte Flügeltür. Sie blieb verschlossen.
Sophie zuckte zusammen, als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Ruhig Blut! Wer einen Schlüssel hat, muss zu Kafziels Vertrauten gehören. In einer Mischung aus Neugier und Furcht wandte sie sich zur Tür um. Wie wohl Menschen aussahen, die Dämonen verehrten? Kafziel hatte ihr erzählt, dass die Mitglieder eines satanischen Zirkels eintreffen würden, da das Ritual die Anwesenheit mehrerer Helfer erforderte.
Beim Anblick des feisten, am Körper stark behaarten, auf dem Kopf dagegen fast kahlen Mannes in Kurzarmhemd und Shorts empfand sie Enttäuschung. Noch beim Eintreten wischte er sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Die Hitze setzte ihm offenbar gehörig zu. So gewöhnlich hatte sich Sophie einen Satanisten nicht vorgestellt. Selbst seinem Blick haftete nichts Boshaftes oder Überhebliches an. Stattdessen sah er überrascht aus, als er sie bemerkte, und eilte beflissen näher, um ihr die feuchte Hand zu reichen. »Bonsoir, Mademoiselle. Mein Name ist Charles Arnaud. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
Sie lächelte unsicher. »Sophie Bachmann.« Was sollte sie mit dem Kerl reden? Sie wollte lieber weiterhin allein sein und an Rafe denken. Doch der Name kam ihr irgendwie bekannt vor. Wo hatte sie den nur gehört?
Ihr blieb kaum Zeit, darüber zu grübeln, da sich die Tür erneut öffnete. Eine große, hagere Frau, deren dünnes, blauschwarzes Haar angesichts ihrer Falten gefärbt sein musste, trat über die Schwelle. Mit ihrem dunklen Lippenstift und den strengen Augen entsprach sie viel eher Sophies Erwartungen als Arnaud. Sie trug eine schwarze Hose und eine dunkelrote Bluse, die trotz des engen Schnitts an ihrem knochigen Leib noch weit wirkten. Hinter ihr tauchte eine weitere Frau aus der Düsternis des aufziehenden Gewitters auf und schloss rasch wieder die Tür. Unter ihrem dezent gemusterten Sommerkleid zeichneten sich üppige Kurven ab. Das lange, glatte Haar war von feurig roter Farbe, ihre Lippen voll, die Augen jedoch verquollen, als leide sie an einer Allergie.
Beide Frauen musterten Sophie abschätzend, während auch sie ihr zur Begrüßung die Hand schüttelten.
»Sie erweisen unserem Zirkel Ehre«, betonte die Rothaarige, ohne ihren Namen zu nennen.
Sophie fragte sich, was Kafziel ihnen über sie erzählt haben mochte, aber sie wollte nicht nachfragen.
»Sie sind sehr tapfer, Mademoiselle.« Die Ältere drückte ihre Hand überraschend herzlich. »Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen. Man nennt mich Sylvaine.«
»Äh, danke«, brachte Sophie heraus, aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein, worum sie hätte bitten sollen. Diese Fremden machten sie nur nervös. Der Raum, der für sie allein angenehm groß gewesen war, kam ihr nun beengt vor, obwohl längst noch kein Gedränge herrschte.
Eine weitere Gestalt schlüpfte herein und schloss die Tür hinter sich. Der junge Mann trug schwarze Jeans und ein Jim-Morrison-T-Shirt, als sei er einer der zahllosen Pilger zum Grab des legendären Sängers, der auf dem Friedhof Père Lachaise beigesetzt worden war. Sein schwarzes Haar und die dunklen Augen hoben sich unnatürlich vom blassen Teint ab. Ob er Drogen nahm? Sophie hatte selten einen so ausgemergelten Körper gesehen.
»Salut zusammen«, grüßte er lässig in die Runde. Ihm fehlte nur noch eine Sonnenbrille, dann wäre er ihr wie ein junger Rockstar vorgekommen, der maßlos von sich überzeugt war.
Die anderen antworteten zurückhaltend und wandten sich sofort wieder von
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