Der Kuss des Jägers
Sophie hin- und hersah.
»Meine Eltern sprechen leider kein Französisch.«
»Ah, bedauerlich. Madame.« Er deutete ihrer Mutter gegenüber eine
Verneigung an und reichte dann ihrem Vater die Hand. »Monsieur Bachmann.«
»Die Herren sind von der Polizei«, erklärte sie rasch, während ihr
Vater dem Capitaine besonders würdevoll die Hand schüttelte, als könne er sein
gemurmeltes »Bonnschur« dadurch wettmachen.
»Wir ermitteln in einem Mordfall und müssen Ihnen ein paar Fragen
stellen«, richtete Lacour das Wort wieder an sie.
Jean! Sofort hatte sie ein schlechtes
Gewissen, weil sie den ganzen Morgen noch nicht an ihn gedacht hatte, obwohl er
doch ihretwegen im Gefängnis saß.
»Ihre Ärztin sagte uns, dass Sie gesundheitlich dazu in ausreichend
guter Verfassung seien.«
Sie nickte. Wenn sie Jean irgendwie mit ihrer Aussage helfen konnte,
musste sie es tun. Aber sie hatte keine Ahnung, was geschehen war, bevor er und
Rafe sie gefunden und Kafziel aufgehalten hatten. Sollten sie tatsächlich einen
Mann getötet haben, um sie zu finden?
»Kennen Sie einen Monsieur Julien Caradec?«
»Nnnein«, erwiderte sie zögernd.
Der Capitaine hob eine Augenbraue. »Aber der Name ist Ihnen nicht
unbekannt.« Es war eine Feststellung, keine Frage, doch sein Blick sagte etwas
anderes.
»Es fiel kein Vorname, aber von einem Caradec war die Rede.« Konnte
sie Jean schaden, wenn sie etwas »Falsches« erzählte? Wie nah an der Wahrheit
musste sie bleiben, ohne sich als Spinnerin unglaubwürdig zu machen? Da die
Polizisten ihre Aussagen mit Zeugenbefragungen, Überwachungsvideos der Métro
und wer weiß was noch überprüfen konnten, durfte sie die Geschichte nicht so
weit verbiegen wie bei ihren Eltern.
»Wer hat in welchem Zusammenhang von Monsieur Caradec gesprochen?«,
hakte der Capitaine nach.
»Die … die Mitglieder des satanischen Zirkels, der mich vorgestern
Abend opfern wollte …« Sie hob den Arm, um die Ermittler auf den Verband
aufmerksam zu machen. »… nannten ihn ihren Anführer. Sie wollten mit dem Ritual
warten, bis er zu ihnen stoßen würde, aber dann kam ein anderer Mann und
brüllte, dass Caradec tot sei.«
Lacour und der Brigadier wechselten einen undeutbaren Blick. Sophie
versuchte vergeblich, in ihren Gesichtern zu lesen. Waren sie denn nicht
überrascht oder wenigstens erstaunt? Ach, natürlich! Jean musste ihnen bereits von den Satanisten erzählt haben.
»Mademoiselle Bachmann, ich muss Sie darauf hinweisen, dass Sie
gerade mehrere Menschen des Mordversuchs an Ihnen bezichtigt haben. Das ist ein
sehr ernster Vorwurf, den ich der Staatsanwaltschaft melden muss.«
Wollte er damit andeuten, dass sie lieber jetzt zugeben sollte,
falls sie log? »Mir reicht es langsam!«, fuhr sie auf. »Jeder unterstellt mir,
ich hätte mich selbst verletzt. Diese Leute wollten mich sterben sehen. Ich
hatte Angst! Glauben Sie, das war ein Spaß?«
Das glitschige Gefühl des blutverschmierten Handgelenks unter ihren
Fingern … Nie würde sie vergessen, wie ihr bewusst geworden war, dass ihr Leben
gerade unwiederbringlich aus dieser Wunde rann. Die Furcht vor dem entfesselten
Dämon, der Rafe mit seinen Klauen zu zerreißen drohte …
»Kind! Handel dir nicht noch Ärger mit der Polizei ein!«, mahnte
ihre Mutter besorgt.
»Ich hab’s satt, dass alle glauben, ich hätte mir das ausgedacht!«
»Diese Geschichte ist nun einmal schwer zu glauben«, ließ sich ihr
Vater vernehmen. »Die Beamten machen doch nur ihre Arbeit.«
»Du glaubst mir immer noch nicht.«
Er verzog nur gequält das Gesicht.
»Mademoiselle, würden Sie Ihre Eltern in meinem Namen bitten, draußen
zu warten, bis wir unser Gespräch beendet haben? Da ich kein Deutsch verstehe,
muss ich sonst annehmen, dass man Ihre Aussagen beeinflusst.«
Genau das tun sie, grollte Sophie und
übersetzte.
Ihre Mutter zauderte. »Ich weiß nicht. Das scheint dich alles noch
zu sehr aufzuregen.«
»Komm, Liebes, das ist doch nur eine harmlose Befragung. Sophie wird
ja keines Verbrechens beschuldigt.«
Nur der Lüge. Und du möchtest am liebsten auch
hören, dass in Wahrheit alles so war, wie ihr es euch zurechtgelegt habt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt so von ihm verraten gefühlt
hatte.
»Danke, Mademoiselle Bachmann. Ich verstehe, dass Sie verärgert sein
müssen«, nahm der Capitaine den Faden wieder auf, als ihre Eltern den Raum
verlassen hatten. »Aber bitte haben Sie auch Verständnis für uns. Wir müssen
jeden
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