Der Kuss des Jägers
war sein
Haar in den wenigen Wochen noch lichter geworden?
»Hallo«, murmelte sie.
Ein Lächeln hellte sein oft streng blickendes Gesicht auf und
verlieh den Augen einen herzlichen Ausdruck.
In der Miene ihrer Mutter stand dagegen deutlich Empörung zu lesen.
»Diese Unmenschen wollten uns gestern Abend nicht mehr zu dir lassen, obwohl
wir sofort ins Auto gesprungen sind, als deine Vermieterin anrief! Dein Zustand
sei ja kein Grund zur Sorge mehr.« Sie rang die Hände. »Eine Unverschämtheit
war das! Eine Mutter will sich selbst davon überzeugen, wie es ihrem Kind geht.
Heute Morgen haben wir uns nicht mehr abwimmeln lassen.«
Sophie fand sich in einer Umarmung wieder und tätschelte ihrer
Mutter die rundliche Schulter. »Ist schon gut, Mama. Ich bin schon wieder fit.«
»Fit?« Die großen, grauen Augen, deren Farbe und Form sie ebenso
geerbt hatte wie das dunkelblonde Haar, sahen sie entgeistert an. »Sie sagen,
du wärst fast verblutet!«
»Das stimmt schon, aber ich habe sofort jede Menge Blutkonserven
bekommen«, versuchte Sophie abzuwiegeln. »Mir geht’s echt gut. Ist schon fast
verheilt.« Demonstrativ wedelte sie mit dem verletzten Arm.
»Du musst uns nichts vorspielen«, rügte ihre Mutter, und ihr Vater nickte.
Sein Blick wurde ernster. Schmerz und Trauer blitzten darin auf, doch er
schwieg. »Wenn es dir wirklich gut ginge, hättest du das nicht getan.« Ein
Zittern hatte sich in die Stimme geschlichen und dämpfte den vorwurfsvollen
Ton. Auch die Hand, mit der sie auf den Verband zeigte, bebte.
Sophie verdrehte die Augen, bevor sie sich wieder im Griff hatte.
Sie durfte nicht unfair sein. Ihre Eltern waren monatelang Zeugen gewesen, wie
sehr sie unter Rafaels Tod gelitten hatte. Woher sollten sie wissen, was jetzt
in ihr vorging? Zumal sie nicht ahnen können, dass ich Rafe
wiedergefunden habe. Und sie durfte es ihnen auch nicht erzählen, sonst
hielten sie sie für völlig durchgedreht.
»Mama«, sagte sie eindringlich, sah jedoch ihren Vater an. »Ihr
müsst mir glauben. Ich war das nicht selbst. Ich weiß, dass es anders aussieht,
aber es hat sich vieles verändert.« Wie sollte sie ihnen nur plausibel machen,
dass sie nicht mehr die in Trauer versunkene Sophie war, die nach Paris
gefahren war, um Abstand zu gewinnen? »Rafe wird immer in meinem Herzen sein,
aber ich gehe wieder aus. Ich habe neue Freunde gefunden, und Madame Guimard
hat mir die Umgestaltung ihres Modegeschäfts übertragen, bis sich etwas
Besseres ergibt.«
»Ist das wahr?«, hakte ihr Vater nach.
Sie hielt seinem prüfenden Blick stand. »Ihr könnt sie fragen. Sie
kümmert sich wirklich gut um mich.«
Er blieb skeptisch. Sophies Lächeln wankte. Sie hatten
vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt, um sich in die Vorstellung
hineinzusteigern, dass ihre einzige Tochter versucht hatte, sich das Leben zu
nehmen. Es tat ihr leid, ihnen diesen Kummer bereitet zu haben, aber das war
kein Grund, sich jetzt in eine falsche Rolle drängen zu lassen.
»Aber wie …« Ihre Mutter brach ab und sah zweifelnd ihren Mann an,
der die Stirn gerunzelt hatte.
»Ich möchte nicht glauben, dass du uns etwas vorschwindelst«,
behauptete er. »Aber wie soll das bitte sonst passiert sein? Man schneidet sich
nicht zufällig die Pulsadern auf.«
Hastig schüttelte sie den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Ich …« Wie
sollte sie ihnen die Sache erklären, ohne sich in noch größere Schwierigkeiten
zu bringen? Sie hatte vorgehabt, sich töten zu
lassen. Andernfalls wäre sie dem Dämon niemals auf den Friedhof gefolgt. Aber
wenn sie nur zugab, freiwillig mit einem wildfremden Mann in ein verlassenes
Mausoleum gegangen zu sein, wo er versucht hatte, sie umzubringen, würden ihre
Eltern sie für naiv und leichtsinnig halten. Was in einem Sodom und Gomorrha
wie Paris, das die Stadt in ihren Augen ganz sicher war, einer Neigung zum
Selbstmord beinahe gleichkam.
»Ich bin entführt worden. Von einer satanischen Sekte.«
Ihre Eltern rissen beide zugleich die Augen auf.
»Was?«, entfuhr es ihrem Vater.
»Eine sata…« Ihre Mutter brach ab, um sich zu bekreuzigen. »Der Herr
steh uns bei! Das …«
»Sophie, ich verlange auf der Stelle, die Wahrheit zu hören!«,
polterte ihr Vater. »Für wie dumm hältst du uns eigentlich?«
»Aber das ist die Wahrheit!« Jedenfalls fast. »Es waren fünf Leute. Drei Männer und zwei Frauen. Und sie haben ein Pentagramm
auf den Boden gezeichnet und schwarze Kerzen aufgestellt.«
Wieder schlug ihre Mutter
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