DER KUSS DES MAGIERS
sie gleichzeitig seine Stimme in ihrem Kopf hörte – mit ganz anderen Worten.
„Endlich habe ich dich gefunden …“, schien er zu flüstern. „Das Versprechen kann wahr werden …“
Und dann erklärte er mit fester Stimme: „… ist, wie Sie sehen, ein ganz normaler, wenn auch sehr großer Spiegel. Sina, würden Sie dem hoch geschätzten Publikum bitte zeigen, dass dieser Spiegel keine Illusion ist?“
Der Druck seiner Hand verstärkte sich kurz, dann ließ er Sina los. Auf einmal konnte sie wieder halbwegs klar denken. Und sie stellte fest, dass sie mit dem Rücken zum Publikum vor einem fast zwei Meter hohen, rechteckigen Spiegel stand, der in einen goldenen, verschnörkelten Rahmen gefasst war. Im ersten Moment wirkte es, als schwebte der Spiegel senkrecht ein paar Zentimeter über dem Boden. Dann erkannte Sina, dass er auf einer runden schwarzen Platte montiert war, die sich nur wenig vom Bühnenboden abhob.
Was hatte LeNormand gesagt? Sie sollte dem Publikum zeigen, dass der Spiegel keine Illusion war? Nun ja, zumindest zeigte er wie erwartet ihr Spiegelbild. Im Bühnenlicht schillerte das Seidenkleid in allen erdenklichen Blau- und Grüntönen, und ihr rotes Haar schien in Flammen zu stehen. Aber ansonsten war alles ganz normal. Sina streckte die Hand aus und berührte die Spiegelfläche. Das versilberte Glas fühlte sich angenehm kühl an.
„Und jetzt drehen Sie den Spiegel bitte einmal …“
Sina musste nur ganz leicht drücken, schon geriet der Spiegel in Bewegung und drehte sich um die senkrechte Achse.
Langsam kam die Rückseite in Sicht, die mit dunkelrotem Samt bezogen war. Als der Spiegel wieder gerade stand – jetzt zeigte die Rückseite zum Publikum –, legte Sina noch einmal die Hand darauf und strich über den weichen Samt, dann drückte sie wieder leicht, und der Spiegel drehte sich zurück.
„Sie sehen, meine Damen und Herren, es handelt sich um einen ganz normalen Spiegel.“
Das hatte Sina jetzt auch festgestellt, deshalb wunderte sie sich, dass ein aufgeregtes Raunen durchs Publikum ging, als die Spiegelfläche wieder nach vorne zeigte. Sie hatte den Magier angeschaut, um herauszufinden, was sie als Nächstes tun sollte, und merkte es nicht gleich.
Erst als sie selbst wieder einen Blick in den Spiegel warf, zuckte sie zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Der Spiegel zeigte immer noch sie – doch ihr Spiegelbild trug jetzt ein schwarzes, bodenlanges Kleid und das Haar offen.
Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, um zu sehen, ob sie sich wirklich selbst sah – und das Spiegelbild tat dasselbe. Überwältigt schüttelte Sina den Kopf – die Person im Spiegel machte dieselbe Bewegung. Es war ein seltsames Gefühl, sich zu sehen und doch nicht zu sehen. Sina drehte sich einmal um die eigene Achse, als könnte sie das Spiegelbild damit wieder richtigstellen, doch als sie sich wieder im Spiegel ansah, hatte ihr Spiegelbild sich erneut umgezogen. Jetzt war ihr Kleid aus luftigem Chiffon in zarten Cremetönen und ihr Haar zu einem lockeren Zopf geflochten.
Das Raunen im Publikum nahm zu.
„Sehen wir doch noch mal nach, ob sich die Illusion hinter dem Spiegel versteckt“, sagte LeNormand.
Gehorsam drückte sie wieder auf den Rahmen, und wieder bewegte sich der Spiegel. Diesmal blieb er sogar stehen, als nur die schmale Kante zum Publikum zeigte, und alle konnten sehen, dass die Bühne dahinter vollkommen leer war.
„Also doch nur ein ganz gewöhnlicher Spiegel“, sagte LeNormand, als der Spiegel sich langsam wieder nach vorn drehte. „Zeigen Sie uns das bitte noch mal.“
Wieder legte Sina die Hand auf die Glasfläche – und unterdrückte einen erschrockenen Aufschrei, als sie auf keinerlei Widerstand stieß. Ihre Hand glitt durch die Spiegelfläche, die sich an dieser Stelle wie Wasser leicht kräuselte.
Hastig zog sie die Hand zurück, und es war wieder nur glatter Spiegel zu sehen.
Fragend schaute sie zu LeNormand hinüber.
„Keine Sorge, du bist vollkommen sicher“, murmelte er, nur für ihre Ohren bestimmt, und schon der Klang seiner Stimme bewirkte, dass Sina ihm bedenkenlos vertraute.
Er nickte ihr aufmunternd zu. Wieder tauchte Sina ihre Hand in den Spiegel. Diesmal bewegte sie den Arm hin und her, und obwohl sie die silberne Fläche deutlich sah, hatte sie das Gefühl, als wäre nur Luft in dem goldenen Rahmen.
„Schauen wir noch einmal, ob sich unser Spiegel nicht plötzlich in Luft aufgelöst hat“, sagte LeNormand wie aufs
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