Der Kuss des Meeres
Ordnung?«
Er versucht, genügend Abstand zwischen sich und seine Schwester zu bringen, bevor er flüstert: » Ich… ich werde dort vielleicht eine Weile zur Schule gehen.«
Stille. Er überprüft das Display, ob er noch Empfang hat. » Hallo?«, flüstert er.
» Bin noch dran, Babe. Du hast mich einfach, ähm, überrascht, das ist alles.« Sie räuspert sich. » Also, ähm… welche Art von Schule? Highschool? College?«
Er schüttelt den Kopf samt Telefon. » Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist…«
» Sie? Du kaufst ein Haus und ein Auto, um ein Mädchen zu beeindrucken? Oh, ich glaub, ich fall in Ohnmacht.«
» Nein, so ist das nicht. Nicht direkt. Würdest du bitte aufhören zu kreischen?«
» Oh, nein, nein, nein, ich werde nicht aufhören zu kreischen. Ich komme mit. So was ist meine Spezialität.«
» Auf keinen Fall«, sagt er und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Rayna ergreift seinen Arm und formt » Leg sofort auf« mit den Lippen. Er scheucht sie weg und bekommt ein Knurren als Antwort.
» Oh, bitte, Galen«, sagt Rachel mit sirupsüßer Stimme. » Du musst mich mitnehmen. Und außerdem brauchst du eine Mutter, wenn du dich bei einer Schule anmelden willst. Und du hast keine Ahnung, wie man Klamotten einkauft. Du brauchst mich, mein Äffchen.«
Er knirscht mit den Zähnen, zum Teil, weil Rayna ihm den Arm verdreht und er fast bricht, zum Teil, weil Rachel recht hat– er hat keinen Schimmer, was er da tut. Er schüttelt seine Schwester ab und kickt mit Sand nach ihr, bevor er weiter den Strand hinuntergeht.
» Na schön«, sagt er. » Du kannst mitkommen.«
Rachel kreischt und klatscht dann in die Hände. » Wo bist du? Ich hol dich ab.« Erst jetzt fällt Galen auf, dass sie überhaupt nicht mehr müde klingt.
» Ähm, Dr. Milligan sagte: Destin.«
» Okay. Wo ist Destin?«
» Er sagte Destin, und er sagte Florida.«
» Okay, verstehe. Lass mich mal sehen…« Er hört ein Klicken im Hintergrund. » Okay, es sieht so aus, als müsste ich fliegen, aber ich kann morgen da sein. Kommt Rayna auch mit?«
» Nicht in einer Million Jahren.«
Rayna reißt ihm das Handy aus der Hand, springt zur Seite und rennt damit davon, während sie hineinbrüllt: » Du kannst darauf wetten, dass ich mitkomme! Und bring mir wieder dieses Zitronenkeks-Dings mit, ja, Rachel? Und etwas von diesem glänzenden Zeug, das ich mir auf die Lippen schmieren kann, wenn sie zu trocken werden…«
Galen massiert sich die Schläfen mit den Fingerspitzen und grübelt darüber nach, was er da eigentlich tut.
Einen Moment lang zieht er ernsthaft in Erwägung, Emma lieber zu entführen.
5
Ein unliebsamer Morgen graut diesig vor den Erkerfenstern im Wohnzimmer. Ich stöhne und ziehe mir die Decke über den Kopf, während ich in das stoische Gesicht der Standuhr in der Ecke blicke. Ich habe mir das Wohnzimmer zum Schlafen ausgesucht, weil es der einzige Raum im Haus ist, in dem nur eine Uhr steht. Die ganze Nacht über habe ich die Treibholzuhr bewundert und mir nicht gestattet, auf ihr Ziffernblatt zu gucken. Das letzte Mal habe ich um zwei Uhr morgens versagt. Jetzt ist es sechs Uhr und ich habe zum ersten Mal seit Chloes Tod vier Stunden am Stück geschlafen.
Außerdem verrät mir die Uhr, dass in zwei Stunden der erste Tag meines Abschlussjahres beginnt. Dafür bin ich nicht bereit.
Ich werfe meine Decke beiseite und richte mich auf. Das Erkerfenster zeigt mir, dass es draußen nicht richtig hell und nicht richtig dunkel ist, sondern grau. Es sieht kalt aus, aber ich weiß, dass es das nicht ist. Der Wind wispert durch das Dünengras hinter unserer Veranda, bis es sich bewegt wie eine Gruppe von Hula-Tänzerinnen. Ich frage mich, wie das Meer an diesem Morgen aussieht. Zum ersten Mal seit Chloes Tod beschließe ich nachzusehen.
Ich öffne die gläserne Schiebetür und werde von einer warmen Augustbrise begrüßt. Ich springe von der letzten Stufe der Veranda und meine nackten Füße sinken in den kühlen Sand. Es ist ein Privatstrand. Ich schlinge die Arme um mich und schlage den Weg zwischen den beiden riesigen Dünen vor unserem Haus ein. Dahinter liegt ein kleiner Hügel, gerade groß genug, um mir den Blick vom Wohnzimmer auf den Ozean zu versperren. Hätte ich letzte Nacht in meinem Zimmer geschlafen, hätte ich mich auf meinem Balkon im zweiten Stock im Sonnenaufgang wärmen können.
Aber mein Zimmer ist voller Dinge, die mich an Chloe erinnern. Es gibt nichts auf meinen
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