Der Kuss des Meeres
fahren?«
Ich bin überrascht, dass sie nicht einen Zettel mit der Aufschrift WINK MIT DEM ZAUNPFAHL drangehängt hat. Oder vielleicht ein Banner: DU MUSST ANFANGEN , NORMALE DINGE ZU TUN , WIE SELBST HERUMZUFAHREN .
Ich nicke. Kaue. Starre auf den Schlüssel. Kaue noch ein wenig mehr. Schnappe mir den Schlüssel, stecke ihn in meine Hosentasche. Nehme noch einen Bissen. Mein Mund sollte eigentlich brennen, aber ich schmecke nichts. Die Milch sollte kalt sein, aber sie ist wie Leitungswasser. Das Einzige, was brennt, ist der Schlüssel in meiner Tasche, der mich dazu herausfordert, ihn zu berühren. Ich stelle das Geschirr in die Spüle, schnappe mir meinen Rucksack und mache mich auf den Weg in die Garage. Allein.
Solange mich niemand umarmt, werde ich klarkommen. Ich gehe den Flur der Middle-Point-Highschool entlang und nicke den Kids zu, die ich seit der Grundschule kenne. Die meisten von ihnen haben genug Verstand, nur mitfühlende Blicke in meine Richtung zu werfen. Ein paar sprechen mich trotzdem an. Aber nichts Verfängliches, nur harmlose Dinge wie » Guten Morgen« und » Ich glaube, wir haben die dritte Stunde zusammen«. Selbst Mark Baker, die Quarterback-Slash-Gottheit von Middle Point, schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln durch die Kriegsbemalung in den Schulfarben, die er sich aufs Gesicht geschmiert hat. An jedem anderen Tag hätte ich Chloe sofort gesimst und ihr erzählt, dass der Mark Baker meine Existenz wahrgenommen hat. Das tue ich jetzt nicht, und der einzige Grund dafür ist derselbe, der ihn auf mich aufmerksam gemacht hat: Chloe ist tot.
Sie alle haben ihr Läuferass verloren. Das Recht, mit ihr anzugeben. In ein paar Wochen werden sie nicht einmal mehr merken, dass etwas fehlt. Sie werden weitermachen, als wäre nichts gewesen. Und Chloe vergessen.
Ich schüttele den Kopf, aber ich weiß, dass es wahr ist. Vor einigen Jahren ist eine neue Schülerin hinten auf dem Motorrad ihres älteren Bruders mitgefahren und gestorben, als er ein Stoppschild überfuhr und in ein Auto krachte. Sie haben Blumen und Karten an ihr Schließfach geheftet. Die Schülerschaft hat eine Kerzenwache im Footballstadion veranstaltet, und der Stufensprecher hat bei einem Gedenkgottesdienst, den die Schule für sie ausrichtete, eine Rede gehalten. Heute könnte ich mich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern, wenn es um mein Leben ginge. Wir waren zusammen in ein paar Klubs und Kursen. Ihr Gesicht kann ich noch deutlich vor mir sehen. Aber an ihren Namen erinnere ich mich nicht.
Ich teste die Kombi meines neuen Spinds. Er öffnet sich beim dritten Versuch. Ich starre hinein und fühle mich genauso leer wie der Spind. Es dauert eine Weile, bis sich der Flur leert, aber ich warte, bis Stille herrscht. Als sich die Klassenzimmertüren schließen und der Flur aufhört, nach Parfüm und Aftershave zu riechen, schlage ich die Tür des Spinds mit aller Wucht zu. Es fühlt sich gut an.
Weil ich zu spät zum Unterricht komme, gibt es nur noch ganz vorne einen Platz für mich. Die hinterste Reihe wäre ideal, um die Gedanken schweifen zu lassen oder um zu simsen, aber ich habe ja niemanden mehr zum Simsen. Und heute könnte ich sogar in einer Achterbahn meine Gedanken schweifen lassen. Da ist die erste Reihe so gut wie jede andere. Ich sehe mich im Raum um, während Mr Pinner ein Blatt mit Kursregeln verteilt. Modellflugzeuge hängen an Schnüren von der Decke, die Wände sind mit Zeitachsen versehen, und Schwarz-Weiß-Fotos von ägyptischen Pyramiden zieren eine Pinnwand. Früher war Geschichte mein Lieblingsfach, aber das hat sich geändert, seit ich mit der Zeit hadere.
Mr Pinner ist bei Regel Nummer drei angelangt, als er aufblickt und jemanden im hinteren Teil der Klasse fixiert. » Kann ich Ihnen helfen? Ich hoffe, Sie verstoßen nicht jetzt schon gegen Regel Numero uno! Erinnert sich irgendjemand daran?«
» Pünktlichkeit«, zwitschert ein Streber hinter mir.
» Ist das hier Weltgeschichte?«, fragt der mutmaßliche Regelbrecher. Seine Stimme klingt gleichmäßig, selbstbewusst und überhaupt nicht so, wie sie klingen sollte, wenn man Regel Numero uno verletzt hat. Ich höre, dass einige Mitschüler auf ihren Stühlen herumrutschen– wahrscheinlich, um einen Blick auf ihn zu werfen.
» Die erste und einzige«, sagt Mr Pinner. » Es sei denn natürlich, Sie meinen die etwas weiter den Flur hinunter.« Er kichert über seinen eigenen Scherz.
» Ist das hier nun Weltgeschichte oder nicht?«, fragt der
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