Der Kuss des Verfemten
einen Blick in den Stall, der sich dem Haus anschloss, doch er war leer. Auch hier schien jemand in blinder Wut alles zerschlagen zu haben. Die Stützbalken waren umgehackt, das Dach hing schräg auf der Mauer, und an der Wand hingen abgeschnittene Stricke, an denen offensichtlich einstmals das Vieh angebunden war.
Erschüttert verließ sie den Hof. Der Hauptmann wollte ihr auf den Wagen helfen, doch Isabella wehrte ab. Zu Fuß ging sie weiter zum nächsten Haus. Aber auch hier erwartete sie der gleiche schreckliche Anblick. Und je weiter sie ging, umso entsetzlicher wurde das Bild. Die Häuser waren zerstört, einige davon verbrannt, das Vieh gestohlen oder sinnlos abgeschlachtet. Überall lagen verwesende Kadaver, stinkendes Korn, zerschlagene Vorratsbehälter. In einem Hof entdeckte sie eine abgehackte menschliche Hand.
Mit starrem Blick lief sie die schmutzige Dorfstraße entlang auf die Kirche zu. Mit Unbehagen folgten ihr die Soldaten. Mathilda war im Wagen sitzen geblieben und lugte nur hinter dem Verdeck der Plane hervor. Der Anblick des zerstörten Dorfes und der Gestank nach Brand und verwesendem Fleisch jagten ihr Schauer des Entsetzens über den Rücken.
»Isabella«, wimmerte sie. »Kommt doch zurück!«
Doch Isabella ließ sich nicht beirren. Langsam, Schritt für Schritt erstieg sie den Hügel zur Kirche. Sie sah sehr wohl die im Winde sich bewegenden Körper, die an den alten Bäumen rings um die Kirche hingen. Schwarze Raben krächzten, und der Hauptmann bekreuzigte sich.
Jetzt erkannte Isabella auch, warum der Kirchturm von Weitem so eigenartig ausgesehen hatte. Das Dach war abgebrannt, die verrußten Reste lagen um die Kirche verstreut. Der Turm stand an der Westseite der Kirche, und hier befand sich auch der Eingang, ein vergleichsweise kleines Rundbogentor. Die zweiflügelige Holztür war gewaltsam eingeschlagen worden. Isabella blickte an der aus Feldsteinen gemauerten Wand empor. Sie hatte den Brand fast unbeschadet überstanden. Es war eine Wehrkirche, die Mauer mochte mehr als zwei Meter stark sein. Sie bekreuzigte sich, bevor sie die Kirche betrat.
Vorsichtig tasteten ihre Füße nach Halt auf dem steinernen Boden der Kirche, der übersät mit verbrannten Balken, Dachschindeln und Putzfladen war.
Nicht einmal die Kirche hatten die Verbrecher verschont! Dort, wo das schlichte Holzkreuz auf dem Boden lag, kniete Isabella sich nieder und versank in ein tiefes Gebet. Sie hörte nicht, dass Mathilda sich näherte. Sie blieb an der Tür stehen und starrte in sprachlosem Entsetzen in das zerstörte Innere der Kirche. Im Gegensatz zu Isabella war sie nicht in der Lage zu beten. Sie zitterte, und ihre Zähne klapperten vor Angst. Sie schrie auf, als eine der schwarzen Krähen vom Gebälk aufflog.
Isabella schreckte aus ihrer Versunkenheit auf und wandte sich mit Grauen im Gesicht zu Mathilda um.
»Wer war das?«, hauchte sie tonlos. »Welcher Teufel in Menschengestalt hat dieses unvorstellbare Verbrechen begangen?«
»Ich weiß es nicht«, schluchzte Mathilda. »Und ich will es auch gar nicht wissen. Ich will nur fort von hier, von diesem schrecklichen Ort!« Ihre mageren Schultern schüttelten sich.
Isabella erhob sich und nahm die Freundin in den Arm. »Es ist gut, mein Kleines, weine nicht! Wir werden für die armen Seelen dieser Unglücklichen beten.«
Vor der Kirche hob sie den Kopf und blickte den Hauptmann an, der immer noch auf seinem Pferd saß und mit unbehaglicher Miene auf die beiden edlen Mädchen wartete.
»Und Ihr, Herr Hauptmann, werdet mit Euren Leuten die Leichen abnehmen und anständig begraben, wie es sich für Christenmenschen gehört!«
Abwehrend hob der Hauptmann die Hände. »Nein, das werden wir nicht tun!«, widersprach er in aller Entschiedenheit. »Das sind Abtrünnige, Verbrecher, die gerichtet wurden. Sie dürfen nicht in geweihter Erde begraben werden!«
»Verbrecher? Ein ganzes Dorf voller Verbrecher? Was haben diese armen Bauersleute denn getan, dass sie derart grausam gerichtet wurden?«
»Wisst Ihr denn nicht, dass hier ein Verfemter sein Unwesen treibt? Ein Kaisermörder, ein Geächteter? Wir sollten schleunigst verschwinden, denn er kann noch in der Nähe sein!«
Auch Isabella wurde es nun unbehaglich, und sie ließ ihren Wagen wenden. Die beiden Mädchen kletterten wieder hinauf und knieten sich zu einem Gebet für die unglücklichen Seelen der Toten auf die nackten Holzplanken. Was war das für eine schreckliche Welt, die sie gegen die
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