Der Kuss des Werwolfs - 1
Flussufer gestellt, und wäre nicht der Besitzer einer Schafherde dazwischengekommen, dessen Tiere der Werwolf bei seiner Flucht aufgescheucht hatte, wäre er jetzt wohl tot.
Das war es aber nicht, was Eugene so beschäftigte, sondern die Nachrichten, die der junge Wolf aus Krakau gebracht hatte: Maksym Derenski rüstete sich, den Schottlandclan anzugreifen und endgültig zu vernichten. Er hatte junge Werwölfe in einem Ausbildungslager jenseits des Ural schleifen lassen, um zu vollenden, was er vor zweihundert Jahren begonnen hatte. Die ersten Krakauer sollten angeblich schon in England sein. Moira hatte Eugene noch nichts von der drohenden Gefahr gesagt, dafür aber die Mitglieder des Rudels zusammengerufen und mit Raphael Langdon, dem Führer der Freien in London, Kontakt aufgenommen. Er wäre vorbereitet, sollte Derenski es wirklich wagen; die Freien in London machten bereits Jagd auf das Krakauer Geschmeiß, das sich heimlich auf die Insel geschlichen hatte.
Eugene hatte alles getan, was auch Rhodry getan hätte, dennoch hatte er das Gefühl, es war nicht genug, würde nie genug sein. Ach, Rhodry, Freund. Er legte eine Hand auf den Sarkophag. Wieder hatte er das Gefühl, als sei sein Freund ganz nahe, als wehe sein Geist durch diesen Raum, um mit Eugene Zwiesprache zu halten.
»Du führst das Rudel so gut, wie der Earl es sich nur wünschen kann.« Moira legte wieder die Arme um ihn und schmiegte sich von hinten an. Sie wollte ihm Mut machen und konnte doch seine Zweifel nicht vertreiben. Eugene wollte gerade antworten, als er glaubte, etwas zu hören.
»Still, Weib!« Er packte ihren Arm so fest, dass sie vor Schmerz aufkeuchte und versuchte, sich zu befreien. »Hörst du es nicht? Ein leiser Ruf.«
Moira hielt inne und lauschte, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich höre nichts! Wenn das wieder einer von deinen Tricks ist … Wer soll hier denn rufen?«
Er legte ihr die andere Hand auf den Mund. Es war nicht mehr als ein Summen in der Luft, selbst für die feinen Ohren eines Werwolfs beinahe unhörbar — er spürte es mehr, als dass er es hörte. Jemand wehrte sich verzweifelt gegen das Vergessen. Eugene hatte schon mehrmals geglaubt, in den Kellern von Shavick Castle einen Ruf zu vernehmen, doch so deutlich wie heute war es noch nie gewesen. Rhodry! Es konnte niemand anders sein.
»Es ist Rhodry. Er versucht, seinem Gefängnis zu entkommen.«
»Wie soll das gehen? Du hast in zwei Jahrhunderten keinen Weg gefunden, ihn zu befreien.« »Er ist immer noch hier, spürst du das denn nicht?« »Nein.« Sie packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her. Eugene ließ es nach einem letzten Blick auf die verschlossene Kammer geschehen.
Kapitel 4
Ihr Handy klingelte, als Nola mit zwei schweren Einkaufstüten beladen gerade Camden Market verließ. Sie fühlte sich verschwitzt, die Arme würden ihr bis in die Kniekehlen hängen, ehe sie zu Hause war — dabei hatte sie nur ein paar Kleinigkeiten kaufen wollen. Am liebsten hätte sie das Klingen einfach ignoriert, aber es ertönte die Melodie von »Summertime«, die einen Anruf von Violet ankündigte. Seufzend stellte Nola die Beutel ab, fischte das Mobiltelefon aus ihrer Handtasche und hielt es ans Ohr.
»Du wirst es nicht glauben«, sagte Vi ohne jede Begrüßung. »Es sind Leute gekommen, extra aus Polen, und sie behaupten, sie wissen, was dir da passiert ist. Sie glauben — und jetzt halt dich fest — dass deine Kratzer von einem Werwolf stammen.«
»Verarschen kann ich mich selber. Erstens gibt es keine Werwölfe, und zweitens beißen die und kratzen nicht.« Nola stöhnte, und gab sich keine Mühe, es vor der Freundin zu verbergen. Wenn sie nicht schnell nach Hause kam, wäre das Eis, das sie sich geleistet hatte, geschmolzen.
Violet ließ sich von einem Stöhnen nicht beeindrucken. »Und wenn es sie doch gibt? Die beiden behaupten, Werwolfjäger zu sein und sich auszukennen. Es sind ein Mann und seine Schwester. Er ist ein richtiges Sahneschnittchen, sie ist auch nicht übel. Natürlich beißen Werwölfe, aber es gibt Situationen, da kratzen sie auch, hat er mir erklärt. Willst du nicht mit den beiden reden? Hey, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: >Werwölfe in London<.«
»Willst du eine Massenhysterie auslösen?« Nola war fassungslos. Violet war zwar immer auf der Jagd nach einer Story, aber dass sie auf so etwas ansprang …
»Wieso? Natürlich nicht! Es ist sowieso niemand in der Stadt, die Queen nicht, und der Premierminister auch
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